KOMMENTAR: Die Ostschweiz muss einen Gang höher schalten

Die Bevölkerung der Stadt St.Gallen schrumpft. Während vergleichbare Städte boomen, dümpelt die Ostschweiz vor sich hin. Für eine Wachstumsoffensive ist es nicht zu spät. Für einen grossen Lupf braucht es aber politisches Personal, das führt, schreibt Chefredaktor Stefan Schmid in seinem Samstagskommentar.

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Die Bevölkerungszahlen der Stadt St.Gallen gehen seit Jahren zurück. (Bild: Ralph Ribi)

Die Bevölkerungszahlen der Stadt St.Gallen gehen seit Jahren zurück. (Bild: Ralph Ribi)

Schon wieder hat die Stadt St. Gallen Einwohner verloren. Es sind zwar unter dem Strich nur deren 177, die der Gallusstadt 2017 den Rücken gekehrt haben. Aber der Zug fährt trotzdem in die falsche Richtung – und das schon seit drei Jahren. Während vergleichbare Schweizer Städte eine erstaunliche Dynamik entwickeln, um nicht zu schreiben: boomen, dümpelt die Ostschweizer Metropole in seltsamer Selbstzufriedenheit vor sich hin. Hauptsache, wir haben’s schön miteinander an der Olma.

Das Phänomen wäre vernachlässigbar, wenn es ein rein städtisches wäre. Natürlich ziehen immer wieder junge Familien hinaus in die Agglomeration, wo Wohnraum erschwinglicher und die Zusammensetzung der Schulklassen homogener ist. Doch diese Entwicklung ist nicht neu. Die Bewegungen gibt es seit Jahrzehnten. Nein, die Sache ist für den gesamten Grossraum St.Gallen und damit weite Teile der Ostschweiz leider wenig erquicklich. Das Gebiet verliert seit Jahren junge, intelligente Köpfe – vor allem an Zürich, wo Studienmöglichkeiten in Hülle und Fülle vorhanden sind und das Leben generell ein My prickelnder ist. Wer an der Limmat heimisch wird, kommt oft nicht mehr zurück. Die Ostschweiz altert daher schneller als der Rest der Schweiz, wie eine jüngst publizierte Studie der Uni Luzern zeigt. Und ihr Bruttoinlandprodukt pro Kopf wächst landesweit am langsamsten. Die Abwanderung sollte daher aus volkswirtschaftlicher und gesellschaftlicher Sicht möglichst in Grenzen gehalten werden.

Die Problemlage ist erkannt. Doch leider schlägt sich dies nicht in einem entschlossenen, gemeinsamen Handeln aller Entscheidungsträger nieder. Es wäre anmassend, hier einen konkreten Marshallplan für die Ostschweiz zu entwerfen, der verhindern würde, dass die Region den Anschluss an die Zentren verliert. Dabei wäre genau das nötig: eine umfassende Wachstumsoffensive für den mitunter trägen Osten.

Noch ist es dafür nicht zu spät. Für einen grossen Lupf braucht es aber politisches Personal, das führt und gestaltet. Und vor allem: über die Grenzen des eigenen Departements hinaus denkt. Dem St.Galler Stadtrat böte sich doch jetzt die Chance, den Lead zu übernehmen, anstatt die Stadt nett zu verwalten, wie dies in den letzten Jahren oft der Fall war. Wie wär’s mit einem politischen Schulterschluss mit der Kantonsregierung zwecks Ankurbelung der Wachstumsmotoren für das wirtschaftliche und politische Zentrum der Ostschweiz? Eine solche Initiative könnte bei der Bildung und den Arbeitsplätzen ansetzen, über die familienergänzenden Tagestrukturen bis zum Wohnungs- und Städtebau führen und die Steuerpolitik einschliessen. Die aktuelle IT-Offensive des Kantons zielt in die richtige Richtung. Doch sie allein ­genügt noch nicht.

Im Idealfall beteiligen sich an dieser Ostschweizer Offensive auch private Unternehmen und die Universität, die regionalpolitisch leider keine prägende Rolle spielt. Was für ein Unterschied etwa zur ETH Lausanne, die mit ihrer Innovationskraft massgebend zum beeindruckenden Aufstieg der gesamten Genferseeregion beigetragen hat.

Gewiss: Die Ostschweiz wird nie mit den Finanzzentren Zürich und Genf oder dem Pharma-Cluster Basel auf Augenhöhe wetteifern können. Das muss sie auch nicht. Dennoch ist die Region gut beraten, den sich öffnenden Graben zwischen der prosperierenden, wachsenden Schweiz und der subventionierten Empfänger-Schweiz, deren Existenzgrundlage die Nettozahlungen aus dem nationalen Finanzausgleich bilden, aktiv und rechtzeitig zuzuschütten.

Wer nur zuschaut und jammert, wird irgendwann abgehängt, so wie dies in Deutschland oder Frankreich vielen ländlichen Regionen längst passiert ist.

Stefan Schmid
stefan.schmid@tagblatt.ch