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Auch wenn der FC St.Gallen gegen YB wieder in Führung lag und trotzdem nicht gewann, stimmten in diesem Spiel Aufwand und Ertrag. Beim gerechten 2:2 kreisten meine Gedanken aber vor allem um die langfristigen Chancen und Grenzen des FC St.Gallen.
Im Alter wird den Menschen bewusst, dass sich der Blick in die Zukunft immer mehr verkürzt. Zum Beispiel, wenn ich lese, dass in St.Gallen irgendwann das grüne Tram wieder eingeführt werden soll. Würde ich das überhaupt noch erleben? Oder auf den FC St.Gallen bezogen: Werde ich je einmal wieder im Gefühl eines Meistertitels oder nur schon eines Cupfinalerfolges taumeln?
Drei Titel verteilt auf ein Jahrhundert
Eine Prognose ist schwierig, weil die Antwort nicht nur vom FC St.Gallen, sondern auch von meiner Lebensdauer abhängig ist. Nüchtern betrachtet, sind die Chancen nicht sehr gross. Denn in 142 Jahren hat der älteste Fussballclub der Schweiz erst zweimal die höchste Auszeichnung in der Meisterschaft und erst einmal im Cupwettbewerb gewonnen. Nur ganz wenige Freunde des FC St.Gallen lebten in der Phase von 1904 bis 2000, auf die sich die drei klubhistorischen Ereignisse verteilen. Von erleben kann schon gar nicht die Rede sein.
Leicht amüsiert erinnere ich mich an meine Tante Elsi, die just in den beiden Jahren der Meistertitel das Licht der Welt erblickte und es auch wieder verlor. Letzteres nicht mehr bei wachem Geist. Die Zufälligkeit war insofern nicht zu bedauern, als sich Tante Elsi für Fussball überhaupt nicht interessierte, extrem hingegen für den Hochadel und die Queen des Königreichs von Grossbritannien, die schon mitten in Elsis Leben Queen Elizabeth II. war.
Gute Präsenz in der höchsten Liga
Die herausragende Leistung des FC St.Gallen bestand über die vielen Jahrzehnte des Schweizer Klubfussballs in der Konstanz. Er verbrachte 89 Jahre in der höchsten Liga und nimmt damit landesweit Rang 7 ein. Die vor ihm Klassierten kann man als die «grossen Sechs» bezeichnen, weil sie über 100 Jahre der Eliteliga angehörten:
Die Reihenfolge entspricht den gewonnenen Punkten, weshalb Servette in der «Ewigen Tabelle» vor dem FCZ liegt. Hinter St.Gallen sind aber Traditionsvereine mit wesentlich kürzerer Präsenz aufgeführt:
Unter den 72 Vereinen, die mindestens einmal seit der ersten nationalen Meisterschaft von 1897 in der höchsten Liga gespielt haben, sind drei weitere Teams aus dem Gebiet des Ostschweizer Fussball-Verbandes aufgeführt: Der SC Brühl St.Gallen mit 21 Jahren und als exotische Überraschung Blue Stars St.Gallen, gegründet 1901, mit sechs Jahren. Der FC Wil hat es auf zwei Spielzeiten gebracht (2002 bis 2004) und in dieser Phase auf gleichviele Cupsiege wie der FC St.Gallen...
Das Wunder von Moskau
Trotz der mageren Titelausbeute hat der FC St.Gallen immer wieder andere Glanzlichter gesetzt. Man bringt sie mit Namen von Personen in Verbindung wie die Sommer-Zeit, die Johannsen-Zeit oder die Zamorano-Zeit. Oder mit den erfolgreichsten Auftritten auf europäischer Ebene, mit Jeff Saibene und dem Wunder von Moskau sowie dem Rauswurf von Chelsea im Nachgang zum sensationellen Meistertitel unter der Ägide von Trainer Marcel Koller. Aussergewöhnlich ist auch, dass St.Gallen mit Beginn 1970 viermal aus der höchsten Spielklasse abgestiegen und in der anschliessenden Saison prompt wieder zurückgekehrt ist.
Vizemeisterschaft mit dem Wert eines Titels
Nun haben wir seit fast einem Jahr einen weiteren Glanzpunkt anzufügen, der mit einem Titelgewinn gleichzusetzen ist. Der zweite Platz in der Meisterschaft verdient dieses Prädikat. Warum? Weil der Kampf um die Meisterschaft seit Jahren schon monopolisiert ist (siehe vorletzte Gegentribüne). Er fand meistens gar nicht statt. Hatte der Blick auf die Liste der Titelträger bis vor gut einem Jahrzehnt noch einen gewissen Reiz, verkommt sie in Bezug auf die jüngere Vergangenheit zur Makulatur. Vorbei die Zeiten, als sich Vereine wie Aarau, Luzern, St.Gallen, Servette, Sion oder Xamax haben eintragen lassen.
Die maximale Zuspitzung schon vorgezogen?
Die aktuelle Unternehmensleitung könnte sich also bereits entspannt zurücklehnen. Drei Jahre sind seit der präsidialen Amtsübernahme durch Matthias Hüppi vergangen, und schon in der zweiten Saison mit der sportlichen Leitung Alain Sutter und Peter Zeidler hat die Mannschaft Euphorie verbreitet. Und die gedeihliche Zusammenarbeit soll gemäss schriftlicher Abmachung ja noch bis 2025 dauern. Denn es gilt, das Vereinsschiff auch langfristig in sichere Gewässer zu führen. Aber die Zeit ist schwierig, der unerbittliche Kampf um Europacup- und gegen Abstiegsplätze zehrt an den Nerven, und die Anhängerschaft muss sich bewusst sein, dass die Vizemeister-Saison selbst in der neuen Ära herausragend bleiben könnte.
Dennoch: Als St.Gallen vor einem Jahr im Zweikampf mit den Young Boys die Felle davonschwimmen sah – vor allem wegen Corona und eines eigentlich unmöglichen Spielplans – hielt sich das Bedauern in meinem Umfeld in Grenzen. Das konnte ich nur zum Teil verstehen. Offensichtlich waren sich viele der älteren Semester der Einmaligkeit dieser Chance nicht bewusst, auch nicht mit Blick auf ihre angesammelten Jährchen.
Vielleicht aber werde ich die Rückkehr des grünen Trams doch noch erleben. Darüber würde ich mich freuen, nur schon wegen der Farbe.
So harmonieren Schiedsrichter und VAR
Wieder einmal haben Schiedsrichter-Entscheide zu reden gegeben, diesmal allerdings mit korrektem Ausgang. Auch wenn sie beim Offsidetor und beim Penaltyentscheid für die Young Boys umstritten gewesen sein mögen: Schiedsrichter Urs Schnyder hat seine Souveränität bewahrt, indem er selbst klare Entscheide traf und indem sich auch die Videoassistentin Esther Staubli zurückhielt.
Die meistens vermeidbaren Probleme mit dem VAR beruhen jeweils auf einem Missverständnis und auf Charaktereigenschaften. Mit der Einführung der Videoüberprüfung waren zu hohe Erwartungen verknüpft, unter anderem, dass auch der umstrittene Entscheid abgeschafft werden könnte. Das ist beim grossen Ermessensspielraum, zum Beispiel bei Händevergehen, Verteilung von gelben und roten Karten, und bei zu vielen schwammigen Regeln (zum Beispiel bei Penalty nach Notbremsefoul) schlicht nicht möglich.
Wenn der Spielleiter entmündigt wird
Was den Charakter betrifft: Auf dem Spielfeld muss der Schiedsrichter laufend Entscheide treffen. Er muss Sicherheit ausstrahlen, ohne überheblich zu werden. Es ist eine aktive Tätigkeit. Der VAR hingegen muss vor dem Bildschirm primär passiv sein. Und weil es sich dort meistens um dieselben Leute handelt, die sonst auch Schiedsrichter sind, fällt der Seitenwechsel gewissen Personen, die Namen sind bekannt, schwer.
Da sitzen sie 90 Minuten und etwas länger vor dem Bildschirm, bei hoher Konzentration, und haben trotzdem keinen Output. Deshalb greifen sie plötzlich auch ein, wenn sie nicht sollten, und treten sogar ungewollt gegen die Regeln der Fairness – wie unlängst bei einem zurückgenommenen Platzverweis gegen einen Spieler von Servette. Sie entmündigen den Schiedsrichter und schwingen sich zum Spielentscheider auf.
Denn nun geschieht Folgendes: Weil der VAR ja nur bei schwerwiegenden Fehlern eingreift oder eingreifen sollte, begibt sich der Referee in vorauseilendem Gehorsam an den Spielfeldrand und stösst seinen Entscheid in jedem Fall und meistens sehr rasch um – jedenfalls habe ich auf Schweizer Plätzen noch nie etwas Anderes gesehen. Nun haben wir zwei umstrittene Entscheide für dieselbe Situation.
Verbesserung möglich
Die graue Zone bei der Regelauslegung hat den Nachteil, dass am selben Spieltag in verschiedenen Partien zwei gleiche oder ähnliche Situationen unterschiedlich beurteilt werden. Das lässt sich nicht vermeiden. Ich bin aber nach wie vor überzeugt – und Zahlen belegen dies - dass der VAR nützlich ist. Verbesserungen sind möglich, vielleicht auch bei der Kontaktregel. Christian Streich, der Trainer des SC Freiburg, hat es dem Sinn nach so formuliert: «Früher musste man für einen Penalty ein Foul begehen, heute reicht ein Kontakt.»
Der Rufer braucht Unterstützung
Ein Einziger macht im leeren Rund des Kybunparks durch lautes «Hopp Sangallä» immer wieder auf sich aufmerksam. Am Sonntag fing ihn eine Fernsehkamera ein. Es handelte sich um FCSG-Aktionär Roland Gutjahr:
Auf jeden Fall hat der bewundernswerte Rufer kräftigen Beistand verdient: Lasst endlich wieder Zuschauer hinein!