Im Kanton St.Gallen mangelt es an Plätzen für die Kinderbetreuung. Die Steuervorlage 17 und die Familieninitiative wollen die Situation verbessern. Doch bei der Umsetzung herrscht Uneinigkeit.
«Das grösste Problem der Familien ist eindeutig die Suche nach einer Kindertagesstätte, vor allem für Säuglinge bis 18 Monate», sagt Corinne Indermaur, Geschäftsführerin der Familienplattform Ostschweiz. Der Verein zählt rund 100 Mitglieder, vor allem KMU, aber auch grosse Unternehmen, Kantone und Gemeinden. Er bietet Beratungen für die Angestellten der Firmen und Verwaltungen an. «Pro Monat führen wir
15 bis 20 Beratungsgespräche», sagt Indermaur. Fast alle zum Thema Kinderbetreuung. Gut situierte Familien würden häufig eine Nanny suchen, welche die Kinder zu Hause betreut.
Indermaur fordert: «Es braucht mehr Kindertagesstätten und mehr schulergänzende Angebote.» Im Ausbau von letzteren, etwa bei der Hausaufgabenbetreuung, sieht sie eine Stärkung von Kindern aus sozial schwächeren Familien und solchen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Auch Beatrice Truniger, Eltern- und Familienberaterin der Kinder- und Jugendhilfe St.Gallen, einem Sozialwerk des Bistums St. Gallen, will genügend und qualitativ gute Kinderbetreuung im Kanton.
«Wir spüren in den Gesprächen häufig, dass Eltern unter der Belastung leiden, Arbeit und Kinder zu vereinbaren.»
Diese wird im Kanton St.Gallen durch den Mangel an Betreuungsplätzen verschärft. Pro Hundert Kinder im Kanton gibt es gerade mal sechs Vollzeitplätze. Im Schweizer Schnitt sind es zehn. Sowohl im familienergänzenden Bereich, mit Kindertagesstätten und Tagesfamilien, als auch im schulergänzenden Bereich, mit Hort, schulischer Tagesbetreuung, Mittagstisch und Tagesfamilien, ist der hiesige Versorgungsgrad mit sechs Prozent unterdurchschnittlich. «Allerdings bestehen grosse regionale Unterschiede», sagt Roger Zahner, Leiter Abteilung Kinder und Jugend beim kantonalen Amt für Soziales. Während das Angebot in den städtischen Zentren gut bis sehr gut ausgebaut sei, liege der Versorgungsgrad in einem Drittel der Gemeinden bei unter einem Prozent. Zahner beruft sich auf die Infras-Analyse vom März 2017, die einen Ausbau der Kapazitäten empfiehlt.
Die Analyse ist Basis für den Bericht der Regierung «Familien- und schulergänzende Kinderbetreuung im Kanton St. Gallen», den die vorberatende Kommission des Rats gerade diskutiert. Er soll in der Novembersession behandelt werden. Für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie und zur Entschärfung des Fachkräftemangels hatte der Kantonsrat die Regierung beauftragt, einen Bericht auszuarbeiten. Bei den Männern arbeiten zehn Prozent in Teilzeit, bei den Frauen rund 60 Prozent, heisst es darin.
«Mütter, die zu Hause bleiben, insbesondere gut ausgebildete, sind wichtige Fachkräfte, deren Potential nicht genutzt wird.»
Während bei den Müttern mit Sekundarstufe II als höchste abgeschlossene Ausbildung nach einem Jahr rund 55 Prozent wieder arbeiten, sind es bei den Müttern mit einer tertiären Ausbildung etwa 70 Prozent. Die Regierung empfiehlt, «Vorbehalte gegenüber Kitas und privaten Horten» abzubauen, das schulergänzende Betreuungsangebot gesetzlich zu verankern und Arbeitgeber als «direkte Nutzniessende der Angebote» verstärkt einzubeziehen. Bisher zahlen die Eltern zwei Drittel der Kosten für die Kinderbetreuung.
Mit der Steuervorlage 17, deren Umsetzung in der Novembersession beraten wird, will die Regierung Familien steuerlich entlasten. Die Familieninitiative, die nächsten Sommer an die Urne kommen soll, lehnt sie ab. CVP und SP stehen massgeblich dahinter. Die Initianten fordern 50 Franken mehr Familienzulagen pro Kind und Monat. Die Regierung hat dem Parlament stattdessen empfohlen, einen Gegenvorschlag auszuarbeiten, bei dem die Wirtschaft an der Finanzierung familienergänzender Betreuungsangebote beteiligt werden soll.
Das werde sehr schwierig, sagt Corinne Indermaur. Bei grossen Firmen sei das kein Problem, wie der Finanzsektor zeige. KMU hingegen könnten dies nicht leisten. Ebenso wenig den Aufbau eigener Kindertagesstätten. Bei der Finanzierung sieht sie vor allem die Gemeinden in der Verantwortung. Bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) St.Gallen Appenzell tönt die Reaktion optimistischer. Der Stellvertretende Direktor Robert Stadler sagt:
«Zusatzbelastungen für Unternehmen lehnen wir grundsätzlich ab. Gleichzeitig sehen wir aber, dass gerade Tagesstrukturen Arbeitnehmern wie Arbeitgebern etwas bringen würden.»
So wie der Gegenvorschlag angedacht sei, wäre er «effizienter als schlicht für alle die Kinder- und Ausbildungszulagen zu erhöhen».
Positiv zur Familieninitiative äussert sich Pro Juventute Kanton St.Gallen. Auch wenn es auf den ersten Blick «nur» um 50 Franken pro Monat gehe, könne genau dieser Betrag entscheidend sein, wenn es darum gehe, ob Geld übrig bleibe für ein Hobby der Kinder, meint Alexa Helbling von Pro Juventute.
Was sagen Wissenschaftler? Objektiv lasse sich nicht entscheiden, ob höhere Kinderzulagen für alle sinnvoll seien oder ob besser nur dort mehr staatliche Mittel ausgeschüttet werden, wo Not herrsche, sagt Thomas Geiser, Professor für Privat- und Handelsrecht an der Universität St.Gallen (HSG) und Spezialist für Familienrecht. Er plädiert für einen Ausbau der Kindertagesstätten. Am wichtigsten sei, dass sich Familie und Arbeit vereinbaren liessen – «nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer».
Gudrun Sander, HSG-Professorin und Spezialistin für Gender- und Diversity-Management, stimmt ihm zu und betont, dass eine partnerschaftliche Verteilung der Erwerbs- und Betreuungsarbeit zu einem Machtausgleich in der Beziehung führe. Die Verfügbarkeit bezahlbarer und qualitativ guter Kinderbetreuung sei dafür zentral. «Frauen stellen aus verschiedenen Gründen ihre beruflichen Ambitionen immer noch zurück und bezahlen bei einer fast 50-prozentigen Scheidungsquote später dann einen relativ hohen Preis dafür.»
Unabhängig von politischen Massnahmen setzt Corinne Indermaur von der Familienplattform Ostschweiz auf den Arbeitsplatz:
«Ich sehe eine Lösung bei mehr Flexibilität bei Arbeitnehmern und Arbeitgebern.»
Mehr Teilzeit, mehr Home Office. «Es muss möglich sein, dass Eltern auch mal um 16 Uhr gehen können.» Im Gegenzug müssten sie bereit sein, in den Ferien auch mal eine Stunde für den Job zu telefonieren.