Der Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes ist vom Thurgauer Obergericht vom Vorwurf des Entweichenlassens eines Gefangenen freigesprochen worden. Er habe zwar fahrlässig und pflichtwidrig gehandelt, weil er einen Moment nicht aufpasste und die Polizei zu spät alarmierte. Er kommt jedoch mit einem blauen Auge davon.
Dem kräftigen Mann ist ein dummer Fehler passiert. Noch heute könnte er sich dafür ohrfeigen. Ruhig sitzt er auf seinem Stuhl am Thurgauer Obergericht. «Was würden Sie anders machen?», fragt ihn der Richter. «Den Häftling auf Schritt und Tritt verfolgen, ihm regelrecht im Nacken sitzen.»
Der damals 27-Jährige arbeitete im Februar 2021 auf Stundenlohnbasis bei einer privaten Sicherheitsfirma. Am Abend erreichte ihn die Anfrage, ob er am nächsten Morgen ab acht Uhr im Spital Münsterlingen die Bewachung eines Untersuchungshäftlings übernehmen könne. Dieser Einsatz wird ihn vor Gericht bringen. «Es tut mir schrecklich leid», sagt er.
Die Sicherheitsfirma löste die Kantonspolizei Thurgau bei der Bewachung im Spitalzimmer ab. Das Polizeigesetz erlaubt es, eine staatliche Aufgabe an Private zu übertragen. Wegen der Drogendelikte sass ein Nordafrikaner im regionalen Untersuchungsgefängnis Kreuzlingen. Angeblich versuchte er, sich dort das Leben zu nehmen. Eine Rasierklinge soll er verschluckt haben.
Der Häftling habe sehr geschwächt und gereizt gewirkt. Der schmächtige Mann mit fehlenden Vorderzähnen habe das Essen verweigert, stattdessen ständig Schmerzmittel verlangt, erzählt der Sicherheitsmann. Aus dieser Situation heraus habe eher die Gefahr bestanden, dass sich der Gefangene etwas antun könnte, als dass er im Stande wäre, die Flucht zu ergreifen. Doch diese Einschätzung erwies sich als Irrtum.
Nachdem der Häftling von seinem Bett aufgestanden war und die Toilette aufsuchte, die sich im Spitalzimmer befand, konnte er einen Moment der Unaufmerksamkeit seines Bewachers ausnutzen und das Zimmer über die zweite Türe verlassen, die auf den Flur führte. Erst als der Gefangene nach 10 bis 15 Minuten nicht aus der Toilette zurückkehrte und der Sicherheitsmann nachschaute, realisierte er die Flucht.
«Mir zog es den Boden unter den Füssen weg. Ich konnte es nicht fassen», sagt er zum Oberrichter. Panisch habe er das Spital und Gelände rundherum nach dem Häftling abgesucht. Damit beging er den nächsten Fehler. Gemäss Weisung hätte er in dieser Situation sofort Alarm schlagen müssen. Die Polizei wurde aber erst 15 Minuten später benachrichtigt. Diese konnte den Häftling auch nicht schnappen. Seine Spur verliert sich an der Bahnhaltestelle Münsterlingen, wo ihn eine Überwachungskamera erfasste.
Das Bezirksgericht Kreuzlingen anerkannte die glaubhafte Reue des Security-Mitarbeiters, der nicht vorbestraft war. Auch habe er keine aktive Hilfe zur Flucht geleistet. Doch die Richter waren überzeugt: Der Sicherheitsmann hätte den Häftling besser im Auge behalten müssen – auch während der Toilettengänge. Es sprach ihn im vergangenen Sommer wegen des «Entweichenlassens von Gefangenen» schuldig: 1200 Franken Busse und eine bedingte Geldstrafe von 120 Tagessätzen à 50 Franken.
Dagegen zog er vor Obergericht. Dieser Fall ist besonders, weil die Verurteilung auf Artikel 319 des Strafgesetzbuchs beruht, welcher sich ausdrücklich gegen «Beamte» richtet. Als solche gelten heute per Gesetzesdefinition etwa Angestellte einer öffentlichen Verwaltung oder Personen, die «vorübergehend amtliche Funktionen ausüben».
Der Beamte, der einem Verhafteten, einem Gefangenen oder einem andern auf amtliche Anordnung in eine Anstalt Eingewiesenen zur Flucht behilflich ist oder ihn entweichen lässt, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. (red)
Sein Mandant sei freizusprechen, argumentierte der Anwalt. Für dieses «Sonderdelikt» könne er gar nicht schuldig gesprochen werden. Der Staat dürfe zwar einen Bewachungsauftrag an Private übertragen, nicht aber die staatliche Zwangsgewalt mit den nötigen Kompetenzen und Ausrüstungen, wie sie ein Polizist in seiner amtlichen Funktion hat. Der Sicherheitsmann sei auch nicht spezifisch für diese Aufgabe geschult worden und hatte praktisch keine Erfahrung darin, so der Anwalt. «Er hat fahrlässigerweise, vielleicht aus Naivität, sicher aus Unerfahrenheit die Situation unterschätzt. Er war eben kein Profi.»
Nach einer Besprechung fällten die Oberrichter ihr Urteil. Sie kommen zum Schluss, dass der Mann klar fahrlässig und pflichtwidrig gehandelt habe. Den Straftatbestand sehen sie jedoch tatsächlich nicht erfüllt. Sie sprechen ihn vom Vorwurf des «Entweichenlassens von Gefangenen» frei. Die Verfahrenskosten gehen zu Lasten des Staates. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.