Die Tunnellandschaft unter dem St.Galler Kantonsspital ist ein Kosmos für sich. Täglich werden hier Hunderte von Patienten und Tausende von Mahlzeiten durch ein geheimnisvolles Labyrinth gefahren, das nur wenigen zugänglich ist.
Das Kantonsspital St.Gallen ist eine eigene kleine Stadt, eine Landschaft im Umbruch. Kranen heben Lasten in die Luft, hinter Schutzwänden graben sich Bagger in die Tiefe, um Schlitzwände für das neue Haus einzuziehen. Wer weiss schon, dass sich direkt unter den Füssen eine geheimnisvolle, dunkle Welt auftut, die nur wenige zu Gesicht bekommen? Gleich hinter der Zentralen Notfallaufnahme beginnt diese Tunnellandschaft aus Korridoren und Tausenden von Leitungen, Rohren und Kabeln: Zutritt für Unbefugte verboten!
So gross das Spitalareal ist, so weitläufig ist auch dieses Geflecht aus nüchternen Korridoren – die Lebensader des Spitals, zu der Dutzende von Treppen und Liften führen. Wer dieses sich ständig verändernde Reich unter dem Erdboden zum erstenmal betritt, droht sich zu verirren. Ein perfekter Schauplatz für einen St.Galler Tatort-Krimi – denkbar ist eine Verfolgungsjagd mit Elektromobilen, die hier auf Schritt und Tritt anzutreffen sind. In der realen Welt arbeitet hier eine ganze Maschinerie – pausenlos, 24 Stunden am Tag. Hier gibt es für Katastrophenfälle eine Geschützte Operationsstelle, die im Zuge der Spitalerweiterung verlegt und bis 2027 neu gebaut wird.
Bis zu 400 Transporte täglich leistet der Interne Patiententransportdienst. Es sind Schnittgewebe-Proben für die Pathologie, Sauerstoffflaschen für die Operationssäle und Bettenstationen, Wäsche, Abfall oder die Post, die durch die Gänge transportiert werden. «Der Anteil der Patiententransporte liegt bei über 80 Prozent», sagt Leiterin Käthy Bondt. Von der Notfallaufnahme werden Patienten rasch und wettersicher in die entsprechende Klinik verlegt. Schaltzentrale der zwölf Mitarbeiter ist die Disponentin: Sie funkt eine Mitarbeiterin an: Um 15.50 Uhr ist ein Mann vom EKG-Untersuch zurück ins Haus 17 zu bringen. Auf einem Spitalplan wird ein Magnetkopf platziert. So weiss die Disponentin, wer von ihren Kollegen wo im Einsatz ist. Hat die Mitarbeiterin ihren Auftrag erledigt, meldet sie sich per Funk zurück, sie ist wieder einsatzbereit.
Gaby Roth (55) fährt eines dieser Elektromobile – seit zehn Jahren macht sie diesen Job. Heute hat sie die mittlere Schicht – sie beginnt um 8.30 Uhr, um 18 Uhr ist ihre Arbeit zu Ende. Roth mag ihre Tätigkeit, routiniert wickelt sie den Auftrag der Disponentin ab: Der Rollstuhl des Patienten wird in Fahrtrichtung am E-Mobil befestigt. Auf der Fahrt zurück durch das Labyrinth wirkt er in sich gekehrt, schweigsam. Die Operation am nächsten Tag beschäftigt ihn. «Ich fühle schnell, wo der Patient steht: Manche wollen reden, andere schweigen. Dritte weinen oder lachen plötzlich», sagt sie. Den chronisch Kranken begegnet sie oft mehrmals während ihres Aufenthalts, darüber freuen sich dann beide: Patient und Transporteurin.
Roth bleibt wachsam auf der Fahrt, achtet auf Gegenverkehr: Die Rundspiegel an den Knotenpunkten sind wichtig. Nur damit sieht sie um die Ecke. Ein eingespieltes Miteinander regelt dieses Leben im Untergrund: Die kleineren, wendigeren E-Mobile huschen an den trägeren Materialtransporten vorbei. Die Patiententransporte haben Vorrang.
Nebst den Profis ist hier auch ein freiwilliger Bettenabholdienst am Werk, der Patientinnen und Patienten im Bett oder Rollstuhl zum Gottesdienst in der Spitalkapelle begleitet. Schon über 25 Jahre springen Ehrenamtliche am Sonntag ein: In den 1980er-Jahren war es die Katholische Arbeiterbewegung, die diesen Dienst leistete und die Patienten aus den Zimmern über den Lift durch die unterirdischen Gänge zum Gottesdienst und wieder zurück brachte. Noch früher waren es Pfadfinder des Corps Hospiz gewesen, die Patienten durch die Gänge geschoben hatten.
Durch die unterirdische Verkehrsschlagader des Spitals werden auch die Mahlzeiten befördert. «Das ist das Wichtigste für die Patienten», sagt Armin Fässler, der Leiter der Diätküche. 3500 frisch zubereitete Mahlzeiten für Patienten, Personal und Besucher pro Tag, das ist ein Ausstoss, wie ihn nur die grösste Küche der Ostschweiz zu Stande bringt. Sie arbeitet am Limit und wird daher im Zuge der Spitalerweiterung vergrössert.
Der Laie staunt über die 45 «Kostformen», wie es im Jargon der Köche heisst: Es gibt säurearmes Essen, eiweissreiches, laktosefreies, glutenfreies, vegetarisches oder auch die fein gemixte Kost, die für den Patienten mit dem Magen-Bypass bestimmt ist, wie der Blick in das elektronische Bestellsystem zeigt. Zusammengestellt werden die flüssig, püriert, geschnitten oder normal ausgelieferten Speisen am Förderband, ausgeliefert dann in Chromstahlwagen-Konvois zu je 30 Portionen. «Wenn die Mahlzeiten nach der Fahrt durch die Gänge bei den Patienten ankommen, sind sie noch fast 60 Grad warm», sagt Fässler, der seit 28 Jahren beim Kantonsspital St. Gallen arbeitet.
Die Spitalküche, das ist ein Hotelbetrieb par excellence: Die täglichen Mahlzeiten sind das Wichtigste im Patientenalltag – Gesundheit geht auch durch den Magen. Grosse Probleme gibt es bei der Rekrutierung von Mitarbeitern nicht: Für die 85 Angestellten, darunter sechs Koch- und zwei Diätkochlehrlinge, hat die Arbeit im Spital nebst dem guten Lohn einen weiteren Vorteil: Um 17.45 Uhr ist Feierabend, wenn nicht noch ein Bankett ansteht.
In unserer Sommerserie tauchen wir ab in den Ostschweizer Untergrund und erkunden Tunnel und Durchgänge aller Art – von den Eingeweiden des Kantonsspitals über die unterirdische Verbindung zweier Autobahnraststätten bis zum Eisenbahntunnel.