Hunde
«Die Welpenauswahl ist im Moment ein grosses Problem»: Ostschweizer Schule für Blindenführhunde bangt um Nachwuchs

Während der Coronapandemie haben sich viele einen Hund zugetan. Jetzt fehlt der Nachwuchs bei der Ostschweizerischen Blindenführhundeschule. Auch mussten viele Hunde wegen fehlender Umwelterfahrungen ausgemustert werden.

Janina Gehrig
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In mehreren hundert Ausbildungsstunden lernen angehende Blindenführhunde rund 36 Befehle zu befolgen. Jorge Moreno mit Hündin Enja, die schon bald eine sehbehinderte Person begleiten kann.

In mehreren hundert Ausbildungsstunden lernen angehende Blindenführhunde rund 36 Befehle zu befolgen. Jorge Moreno mit Hündin Enja, die schon bald eine sehbehinderte Person begleiten kann.

Bild: Donato Caspari

Sie überqueren Zebrastreifen, wenn die Ampeln auf Grün schalten, suchen Geldautomaten und Briefkästen und zeigen Hindernisse wie Absätze, Abfalleimer oder abgestellte Velos an. Ohne Blindenführhunde könnten viele sehbehinderte und blinde Menschen ihren Alltag kaum meistern. Bei der Stiftung Ostschweizerische Blindenführhundeschule in Goldach werden die Vierbeiner dafür ausgebildet. Doch seit der Coronapandemie fehlt es an Nachwuchs.

«Die Welpenauswahl ist im Moment ein grosses Problem», sagt Geschäftsführer Jorge Moreno, der die Stiftung 1997 gegründet hat. «In der Vergangenheit durften wir die Welpen aus einem Wurf auswählen», sagt Moreno. «Jetzt müssen wir jene Hunde nehmen, die uns gegeben werden – in der Hoffnung, dass die Ausbildung funktioniert.» Um sehbehinderte Personen zuverlässig begleiten zu können, müssen die Hunde gewisse Charaktereigenschaften wie Neugier, Intelligenz und Selbstvertrauen mitbringen. Hunde, die zu ängstlich oder unsicher sind oder deren Triebe wie Jagen und Spielen zu ausgeprägt sind, eignen sich nicht.

Der Grund für die lange Warteliste der Welpen: Seit Beginn der Pandemie boomt das Geschäft mit Haustieren. Während der Coronapandemie verbrachten die Leute nicht nur viel mehr Zeit im Homeoffice, sondern auch in der Natur. Da erfüllten sich viele den lang gehegten Traum eines Haustiers. Über 16’000 Hunde wurden in der Schweiz im letzten Jahr neu gemeldet, das sind zwei- bis dreimal so viele wie in früheren Jahren. Gemäss der nationalen Hundedatenbank amicus sind in der Schweiz insgesamt über eine halbe Million Hunde registriert. Besonders beliebt sind Retrieverrassen, zu denen auch Labradore gehören – genau jene, die sich neben Schäferhunden und Königspudeln wegen ihrer Grösse und ihres Wesens auch als Blindenführhunde am besten eignen. Und da fehlen sie jetzt.

Jorge Moreno mit Hündin Enja beim Trainingsspaziergang.

Jorge Moreno mit Hündin Enja beim Trainingsspaziergang.

Bild: Donato Caspari

Durch die hohe Nachfrage sind auch die Preise gestiegen. Normalerweise bezahlte Jorge Moreno für einen reinrassigen Hund 2500 Franken. Jetzt wird teils zwischen 3500 und 4000 Franken verlangt. Moreno, der auch als Blindenführhundeinstruktor und Orientierungs- und Mobilitätslehrer arbeitet, sagt:

«Eine Stiftung, die mit Spendengeldern arbeitet, kann sich das nicht leisten.»

Während etwa die grösste Schweizerische Blindenführhundeschule in Allschwil ihre Hunde selber züchtet, arbeitet Morenos Blindenführhundeschule mit verschiedenen Züchtern im In- und Ausland zusammen. Hunde aus dem Tierheim zu beziehen, in denen jetzt, da sich ein Ende der Pandemie abzeichnet, mancherorts wieder vermehrt Hunde landen, die ihre Besitzer überforderten, sei keine Option. «Wir kaufen nur Welpen im Alter von zehn bis zwölf Wochen, da wir die Prägungszeit nutzen, um sie mit Artgenossen, der Umwelt- und verschiedenen Verkehrssituationen vertraut zu machen», sagt Moreno. Diese Erfahrungen sammelt der Hund in einer Patenfamilie, ehe die eigentliche Ausbildungsphase beginnt und der erste Kontakt mit einer sehbehinderten Person erfolgt.

Wegen des Lockdowns kein Menschengedränge erlebt

Doch auch die Familien, die einen künftigen Blindenführhund für eineinhalb Jahre zu sich nehmen, sind in den letzten zwei Jahren rar geworden. «In den letzten sechs Monaten konnten wir kaum eine Patenfamilie dazugewinnen», sagt Moreno.

Und schliesslich mussten in den letzten zwei Jahren so viele Patenhunde ausgemustert werden wie noch nie.

«Sieben von zehn Hunden mussten ihre Ausbildung abbrechen, entweder aus gesundheitlichen Gründen oder, weil die Patenfamilien mit dem Hund wegen der pandemiebedingten Einschränkungen nicht genügend Umwelterfahrungen sammeln konnten.»

Die Hunde konnten nicht lernen, sich im Menschengedränge, im Lärm, in vollen Zügen zu behaupten und wurden nur mangelnd mit Leuten und anderen Hunden sozialisiert.

Derzeit sei man daran, drei bis vier neue Patenfamilien zu suchen. Ziel sei zudem, dieses Jahr vier bis sechs fertig ausgebildete Hunde platzieren zu können. Denn auf der Warteliste der Schule stehen zehn Personen, die auf einen Blindenführhund warten. Trotz der vielen Probleme, die Corona mit sich gebracht hat, bleibt Moreno zuversichtlich. Und er hofft, dass jeder, der sich einen süssen Welpen anschaffen wolle, darüber nachdenkt. «Wichtig ist, dass die Bevölkerung versteht, dass Hunde keine Spielzeuge sind, sondern deren Erziehung viel Aufwand bedeutet.»

An Welpen wie diesem mangelt es an der Blindenführundeschule.

An Welpen wie diesem mangelt es an der Blindenführundeschule.

Bild: PD

Dass die Nachfrage nach Retrieverwelpen massiv zugenommen hat, haben auch die Züchter zu spüren bekommen. «Ich weiss von Züchtern, die 70 Anfragen für sieben Labradorwelpen oder Golden Retriever erhalten», sagt Michael Gruber, Präsident des Retriever Clubs Schweiz. Retriever gelten als Familienhunde. Sehr viele Leute hätten sich aufgrund der Coronasituation entschieden, einen Hund zu haben. «Für uns Züchter ist es schwierig, herauszufinden, ob sich jemand vorgängig wirklich viele Gedanken darüber gemacht hat.»

250 Anfragen nach Welpen in den Coronajahren

Auch die Warteliste von Julia Käser, Labradorzüchterin aus Egg und Vorstandsmitglied der Regionalgruppe Ostschweiz des Retriever Clubs, ist lang. 15 bis 20 Namen stehen darauf. Ihre drei Hündinnen und der Deckrüde ergaben letztes Jahr zwei Würfe mit zwölf Welpen. Leider seien aber fünf Hunde tot geboren worden. Der Schweizer Markt habe die Nachfrage nach Junghunden schon vor Corona nicht abdecken können, sagt Käser. Corona habe das Problem verschärft. Weil die Lage unklar war, hätten viele seriöse Züchter auf Würfe verzichtet. Bei anderen verzögerte sich die Zuchtzulassung, da die Termine für die «Wesens- und Anlagetests» der Hunde ausfielen.

Während Käser früher jährlich 30 bis 50 Anfragen nach Welpen hatte, waren es zwischen Februar 2020 und Dezember 2021 rund 250. Käser bestätigt einen Preisanstieg für Welpen mit Stammbaum. Aktuell kosten Labrador Retriever zwischen 2500 und 3200 Franken. Um einen Welpen zu erhalten, ist bei Käser eine persönliche Bewerbung nötig.

Rund 50'000 blinde Personen und 400 Hunde

Schweizweit gibt es laut dem Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen rund 377'000 Menschen mit einer Sehbehinderung, davon sind 50'000 blind. «Für einen Führhund kommen in erster Linie jene Menschen in Frage, die sich nicht mehr visuell orientieren, also diejenigen, die wir als blind bezeichnen», sagt die Kommunikationsbeauftragte, Nina Hug. Gemäss Jorge Moreno haben rund 400 von ihnen aktuell einen Blindenführhund. Das Problem sei aber, dass sich die mangelnde Anzahl Welpen in Führhundeschulen langfristig auswirken würde, sagt Hug. «Ein Hund ist etwa zehn Jahre als Führhund im Einsatz. Über die nächsten Jahre fehlt also die Anzahl Blindenführhunde, die jetzt nicht ausgebildet werden kann.» Und: Selbst, wenn später mehr Welpen zur Verfügung ständen, könnten nicht einfach doppelt so viele gleichzeitig ausgebildet werden.