Seit drei Jahren steht das Chräzerli – zuerst ein Kurhaus, später dann Knabeninstitut und Berggasthaus – vis-à-vis der Schwägalpstrasse leer. Fast hätten es die Scientologen gekauft.
Die Höger wirken hier allesamt, als hätten sie Hormone gegessen, so aufgepumpt und exaltiert und überspitz stehen sie im Gelände. Manche Kämme sind wie mit dem Messer zerteilt, die Nagelfluh zeigt sich. «Dieses Land wird ewig abseitig bleiben», heisst es in einem Reportagentext.
Mitten in dieser vor Kraft strotzenden Landschaft steht das Chräzerli auf 1100 Metern Höhe, 30 Gehminuten unterhalb der Schwägalp-Passhöhe und Teil der ältesten Fussgängerverbindung vom Toggenburg ins Appenzeller Hinterland. Übergross für ein Berggasthaus klebt es da am Berghang, mit der Schwägalpstrasse auf der andern Talseite nur verbunden durch eine uralte Materialbahn.
«Schattenhalb» betiteln die Einheimischen nüchtern die Tallage an der jungen Urnäsch. Allerdings ist es hier während acht Monaten weit sonniger als es sich von der gegenüberliegenden Seite erahnen lässt. In den Glanzzeiten der 1930er-Jahre war das Chräzerli ein Kurhaus, ein beliebtes Postkartenmotiv. Von 1965 bis 1988 dann ein Knabeninstitut mit Privatschule, das in Urnäsch, der flächenmässig grössten und urchigsten Gemeinde des Halbkantons Appenzell Ausserrhoden, eine grosse Arbeitgeberin war.
Drei Jahre schon steht es für 400'000 Franken zum Verkauf. Draussen blättert der Lack. Drinnen ist’s, als warte das Knabeninstitut nur darauf, aus dem tiefen Dornröschenschlaf wieder zum Leben erweckt zu werden. In den Zimmer- und Gruppenräumen müffelt’s, in der Abwaschmaschine liegen ein paar vergessene Utensilien. Tellerberge warten in der renovierbedürftigen Küche auf ihren Einsatz.
Der Schweizerische Alpenclub muss hier grandiose Zeiten erlebt haben – noch immer hängt eine Trophäe im Nostalgiestübli, gewidmet dem Gewinner des Skispringens auf der nahen Naturschanze. Auf dem Fussboden erinnert ein ausgestopfter Marder an Marie Margrith Züger, die ehemalige Schulleiterin und Besitzerin, die noch fünf Jahre nach der Schliessung hier oben allein in dem grossen Haus gehaust hatte, zusammen mit ihren Katzen – und Mardern.
Eng mit dem Haus verbunden war auch der 1999 verstorbene Arboner Unternehmer Jakob Züllig, der die Arbonia-Forster-Gruppe zur Blüte führte. Der Thurgauer hatte hier in jungen Jahren mehrmals mit seinen Soldaten übernachtet. In Vollmondnächten, so geht die Mär, soll er dann jeweils nach Urnäsch geritten sei, wo er eine Liebelei hatte. Später sollte Züllig noch eine wichtige Rolle spielen.
1994 machten Schlagzeilen über die Bezirksgrenzen hinaus die Runde. Nationale Medien berichteten über Pläne, in der früheren Pizzeria Bahnhof in Urnäsch einen Nachtclub zu installieren. Das ganze Dorf geriet in Rage. Der Gemeinderat wurde per Petition aufgefordert, die Bevölkerung vor den tanzenden Girls zu schützen «und das Vorhaben zu vereiteln». Im zehn Kilometer entfernten Schwellbrunn leiteten die Behörden Ermittlungen gegen die Geistheilerin Erika Bertschinger, die Begründerin der Sekte Fiat Lux, ein. Sie hatte «heilende Wässerchen» vertrieben, die angeblich gegen Krebs, Aids, Drogensucht, Tuberkulose und anderes helfen sollten.
In Urnäsch wollten Scientologen Fuss fassen, die Unterorganisation Narconon wollte im ehemaligen Knabeninstitut Drogensüchtige therapieren. Ein Sektentempel im Dorf? Die Gemeinde reagierte beunruhigt, zumal die sektenähnliche Gruppierung bereits im Besitz einer sanitätspolizeilichen Bewilligung für zehn Therapieplätze war. Engagierte Urnäscher und Urnäscherinnen taten sich zusammen, kurz bevor die Eingabefrist ablief.
«Was habe ich da nur losgetreten», sagt Esther Ferrari mit einem Schmunzeln. Aufgewachsen in Speicher und Azmoos lebt die in der Region tiefverwurzelte 79-Jährige seit 1965 in Urnäsch; ihr Sohn Hanspeter Schoop betreibt seit 2009 das Berggasthaus «Tierwees»im Alpstein. Eine Million Franken betrug der Kaufpreis für das Anwesen – das Berggasthaus, die beiden Nebengebäude und die dazugehörende Alp.
Woher das Geld nehmen? Ferrari rief Züllig an – die beiden kannten sich. Innert zehn Minuten sagte der Arboner Unternehmer die Million als Darlehen zu – wohl in Erinnerung an die schönen Zeiten in der Militärunterkunft. Dies unter der Bedingung, dass niemand erfahre, wer der Geldgeber sei. Züllig wollte nicht mit Scientology in Verbindung gebracht werden.
In einer Nacht-und-Nebelaktion wurde 1993 der Verein «Chräzerli» gegründet, den Ferrari lange Jahre leitete. Die Liegenschaft wurde gekauft – und damit ein Sektentempel am Fusse des Säntis verhindert. «Wir haben alle dichtgehalten. Zülligs grosszügige Tat blieb zu seinem Tod geheim», sagt Hanspeter Walser (86), der frühere Kassier, der das Chräzerli später durch schwierige Zeiten begleitete. Überliefert und gern gehört ist auch die Geschichte, dass Züllig später die Seite mit den roten Zahlen in der «Chräzerli»-Rechnung stillschweigend umgeblättert haben soll.
Nach dem Tod des Förderers verhandelte der Verein mit den Erben: «Die Million konnten wir natürlich nicht zurückzahlen», sagt Walser. «Aber einen anständigen Betrag. Die Erben waren bereit, sich mit einer Abschlagszahlung von 300'000 Franken zu begnügen.» Aus dem Chräzerli sollte nun eine Bergwirtschaft «mit SAC-Ambiente», ein offenes Ferien- und Lagerhaus sowie ein Begegnungs- und Kulturzentrum werden. Dutzende Freiwillige aus dem Dorf leisteten Hunderte Fronstunden, um das Institut zu entrümpeln und zu neuem Leben zu erwecken. Drei Gastwirte versuchten ab 1995 mit unterschiedlichem Erfolg das Restaurant mit Gartenwirtschaft, die 24 Zimmer und 13 Massenlagerplätze sowie die Seminarräume in Schwung zu bringen.
Bekannt war das «Chräzerli» vor allem wegen seiner Vollmondabende, jeweils sechs pro Jahr. Sie waren alle organisiert von Esther Ferrari, die viele Referenten kannte. «Hobbybauer» Alfred Wirz, der zweite Vereinskassier, kaufte die Alp 2001 – «um die Schulden gegenüber Zülligs Erben zu tilgen», wie er heute sagt.
Auch nach 26 Jahren wacht der Verein mit seinen 100 Mitgliedern darüber, dass das «Chräzerli» nicht in die Fänge einer Sekte gerät. Das Berggasthaus und die beiden Nebengebäude sind immer noch in seinem Besitz. «Wir suchen jemanden, der mit Herzblut einsteigt», sagt Wirz. «Der Kassier erhielt 2018 gleich mehrere unseriöse Angebote: «Die wollten alle nur die Gastwirtschaft kaufen. Aber gerade in diesem Bereich braucht es zwingend Neuinvestitionen.» In einem Fall sei klar Schwarzgeld im Spiel gewesen. «Und es gab erneut ein Angebot einer Sekte.»
Im laufenden Jahr meldete sich bisher nur ein einziger Interessent. «Der Deutsche war bereit, 150'000 Franken für den Gastrobetrieb zu zahlen, verlangte aber noch 50 Parkplätze», sagt Wirz. «Ich habe abgelehnt. Wir lassen uns Zeit, bis der Richtige kommt.»
Hotels, Fabriken, ein Schlachthaus – in loser Serie besuchen wir verlassene Orte in der Ostschweiz, die seit Jahren oder gar Jahrzehnten leer stehen. Wir öffnen die Türen und erzählen die Geschichten hinter den Gebäuden. Und fragen, ob und wie die Objekte wieder genutzt werden könnten. (cz)