In der Ostschweiz infizierte sich vor 100 Jahren ein Sechstel der Bevölkerung mit der Spanischen Grippe. Dem Virus erlagen ungewöhnlich viele junge Männer. Als Sündenböcke für die Epidemie mussten wahlweise Soldaten oder Sozialisten herhalten.
An der Westfront waren kaum Schweizersoldaten stationiert. Von ein paar freiwilligen Thurgauern etwa, die der Deutschfreundlichkeit halber in den Grossen Krieg gezogen waren, einmal abgesehen. Die Spanische Grippe, die weltweit mehr Todesopfer gefordert hat als der Erste Weltkrieg, kam aber vermutlich nicht mit ihnen in die Schweiz. Das Virus schwappte eher mit jenen Soldaten, die im Welschland die Grenzen der Neutralität hüteten, in die Ostschweiz hinüber. Nachdem Anfang Juli 1918 noch erste Zeitungsmeldungen über eine «harmlose Grippe» kursierten, tönte es wenige Tage später schon dramatischer. Am 13. Juli 1918 schrieb das «St. Galler Tagblatt»: «Das sehr starke Auftreten der Spanischen Krankheit in der Armee hat das Land mit einem Male aufgerüttelt. 6800 Soldaten sind im Dienste von der Grippe überfallen worden.» Es wurde kritisiert, man habe die Seuche unterschätzt, der Sanitätsdienst der Armee sei völlig überfordert. Armeearzt Oberst Carl Hauser steckte medial und politisch massive Kritik ein. Auch die sozialdemokratische St. Galler «Volksstimme» äusserte ihren Unmut: Die ausländischen Kriegsinternierten würden «verhätschelt», während die eigenen Soldaten in den Kasernen dahinsiechten.
Im Kanton St. Gallen zählten die Historiker für das Jahr 1918 gut 53000 Erkrankungen, wobei die Dunkelziffer an nicht gemeldeten Erkrankungen als ziemlich hoch eingeschätzt werden muss. Mindestens ein Sechstel der Einwohner war vom Virus befallen. 1436 Personen starben. Städtische Gebiete waren stärker betroffen als ländliche. Besonders häufig erkrankten junge Männer an der Grippe, was nicht nur mit der Ausbreitung in Soldatenkreisen zu tun hatte (siehe Kasten).
Am 18. Juli 1918 wurden sämtliche Rekrutenschulen in der Schweiz geschlossen. Auch der St. Galler Regierungsrat sah sich bald gezwungen zu handeln. Am 25. Juli traten Verbote für Tanzveranstaltungen, Theateraufführungen, Konzerte, Kinovorführungen, Platzkonzerte, Volksfeste aller Art und politische Versammlungen in Kraft. Etliche Gemeinden setzten den Schulunterricht, Gottesdienste und öffentliche Beerdigungen vorübergehend aus. In Mels wurde sogar die traditionelle «Türgga-Hülschete» verboten, weil beim Entblättern der Maiskolben viele Leute auf engem Raum zusammenkamen. Und der Gemeinderat von Gossau untersagte das Baden «bei der Einmündung des Oberdorfkanals bei der Maschinenfabrik Högger». Überall im Kanton wurden Notspitäler, Lazarette und Krankenzimmer eingerichtet. So beispielsweise in der Kaserne in St. Gallen, in der Kuranstalt Untere Waid in Mörschwil, im Restaurant «Rosengarten» in Gossau, in der Sekundarschule in Rapperswil, in einem Haus in Uznach, im Schwesternhaus St. Katharina in Wil oder in einem ehemaligen Fabriklokal in Buchs. Gerüchte über den Schwarzen Tod machten die Runde. So sah sich der «Fürstenländer» gezwungen, eine in Gossau kursierende Mär ins rechte Licht zu rücken: Es war behauptet worden, die Leiche eines Altstätters sei komplett schwarz angelaufen.
Der Grippetod vieler junger Soldaten heizte die Stimmung im Land, die durch den Landesstreik ohnehin schon getrübt war, weiter an. Der ruppige Ton zwischen Linken und Bürgerlichen verschärfte sich. Beide Seiten beschuldigten sich gegenseitig, für die zweite Grippewelle im November 1918 verantwortlich zu sein. Die Sozialisten sahen das Problem in den enormen Truppenverschiebungen. Aus Sicht der Bürgerlichen waren es die sozialistischen Provokationen, welche die Truppeneinsätze überhaupt ausgelöst hätten. Im Februar 1919 protestierten «bürgerliche Soldatenkreise» des St. Galler Infanterieregiments 33 gegen ihre Entsendung nach Zürich, wo Armee und Landesregierung nach wie vor mit sozialen Unruhen rechneten. In einem anonymen Schreiben fragten sie den St. Galler Regierungsrat, warum er nicht Einspruch gegen das Aufgebot erhoben habe, obwohl bekannt sei, dass bei den Truppen in Zürich die Grippe erneut zu grassieren begonnen hatte. Es gebe doch «genug Freiwillige, die als Arbeitslose herumwalzen und damit dem Staate gefährlich werden könnten». Es folgten Vorwürfe an den Bundesrat, der das «Lumpengesindel von Bolschewisten in Zürich drunten» schon längst hätte unschädlich machen sollen. «Fort mit dem extremen Sozialistenpack, wir 33er haben nach dem Kriegsschluss Notwendigeres zu tun als in Zeiten der Epidemie wegen dieser teuflischen Gesellschaft nach Zürich zu wandern.»
Auch die Sozialdemokraten interpellierten bei der Regierung gegen die Entsendung der «33er», allerdings ohne die Grippe zu erwähnen, sondern um zu fragen, wann die Truppe entlassen werde und ob die Eingezogenen vollen Ersatz für den Verdienstausfall erhielten. Die Regierung antwortete, es sei Sache des Bundes, Truppen aufzubieten. In Zürich bestehe immer noch die Gefahr einer Revolution. Die Verantwortung dafür trügen daher jene, die revolutionäre Bestrebungen förderten. Und im Übrigen werde der Sold nicht angepasst. Sowohl die sozialen Unruhen als auch die Grippeepidemie flauten im Frühjahr 1919 ab. Es wurden kaum mehr Krankheitsfälle gemeldet, einige Gemeinden blieben 1919 ganz verschont.
Die Spanische Grippe hat ihren Namen, weil erste Nachrichten über die Epidemie aus Spanien kamen. Ausgelöst wurde die Krankheit von einem besonders aggressiven Subtyp des Grippevirus A/H1N1. Ein anderer Subtyp desselben Virus veranlasste die WHO im Herbst 2009, die höchste Pandemie-Alarmstufe 6 auszurufen. Die Schweinegrippe erwies sich aber als weit weniger pathogen wie die Spanische Grippe von 1918. Ungewöhnlich hoch war damals die Sterblichkeit bei 20- bis 40-Jährigen, besonders bei Männern. Vermutet wird, dass das Immunsystem in Form eines sogenannten «Zytokinsturms» überreagierte. Zytokine sind Proteine, welche in diesem Fall körpereigene Abwehrzellen dazu veranlassen, das Lungengewebe anzugreifen. So traf es besonders Menschen mit starken Abwehrkräften. Die meisten Infizierten starben nicht an der Grippe selber, sondern an deren Folgen, meist an Lungenentzündung. Prominente Opfer waren etwa der New Yorker Unternehmer Frederick Trump, Grossvater des aktuellen US-Präsidenten, oder Sophie Freud, Tochter des berühmten Psychoanalytikers. Auch zu trauriger Berühmtheit gelangte die sizilianische Generalstochter Rosalia Lombardo, die knapp 2-jährig verstarb. Ihr Leichnam wurde in einer Gruft in Palermo aufgebahrt und gilt heute als besterhaltene Mumie der Welt. (hrt)