Auch an Ostschweizer Spitälern sind Chefärztinnen eine Seltenheit. Gudrun Sander schult Führungskräfte von Spitälern, damit sie mit dem Thema Chancengleichheit reflektierter umgehen. Teilzeitarbeit sei in allen Disziplinen möglich, sagt sie.
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Der Fall löste eine Debatte zur «Machokultur» an Schweizer Spitälern aus: Die Walliser Ärztin Natalie Urwyler arbeitete als Anästhesistin am Berner Inselspital. Nachdem sie Mutter geworden war, wurde ihr verweigert, das Pensum auf 80 Prozent zu reduzieren. Zudem durfte sie nicht mehr weiter an der Uni forschen und dozieren. Als Urwyler sich wehrte und eine aufsichtsrechtliche Beschwerde gegen den Klinikleiter einreichte, erhielt sie die Kündigung. Vor Gericht bekam sie kürzlich Recht. Das Inselspital Bern verlor damit als erster Schweizer Konzern eine Diskriminierungsklage. An Ostschweizer Spitälern sind Ärztinnen in leitenden Positionen ebenfalls deutlich in der Minderheit.
Gudrun Sander, ist die Spitalbranche frauenfeindlich?
An Spitälern herrscht allgemein eine stark hierarchische Kultur. Das Pflegepersonal ist weiblich, die Ärzteschaft männerdominiert. Dadurch bilden sich unterschiedliche Arbeitskulturen, was eine besondere Herausforderung ist. In sehr männerdominierten Branchen ist es schwieriger, über Pensenreduktionen zu diskutieren, da die meisten Männer in der Schweiz Vollzeit arbeiten. Sehr viele Frauen verlassen deshalb die Spitäler, um in Privatpraxen zu arbeiten. Es ist aber auch von der Disziplin abhängig. In der Chirurgie etwa geht es bestimmt machohafter zu als etwa in der Pädiatrie oder Onkologie.
Gibt es Spitäler mit frauenfreundlicheren Strukturen?
Es hängt sehr stark von den Vorgesetzten ab. Wir sehen aber, dass gerade kleinere Spitäler häufig attraktivere Arbeitsbedingungen anbieten, um gutes Personal zu gewinnen. Es gibt Spitäler, in denen 60 Prozent der Ärzte – also der Männer – Teilzeit arbeiten.
Sie schulen auch Chefärzte. Was lehren Sie diese?
Führungskräfte lernen, ihre Entscheidungsmuster zu reflektieren, etwa bei Rekrutierungen oder Beförderungen. Wir regen sie an, die Perspektive zu wechseln: «Würden Sie die gleiche Frage an eine junge Frau auch einem jungen Mann stellen?» Es geht darum, Wahrnehmungsverzerrungen, die wir ja alle haben, bewusst zu machen. Falsche Annahmen – etwa, dass Ärztinnen mit drei Kindern nicht an einer Karriere interessiert sind – sind bei Personalentscheiden problematisch, da Talente übersehen werden.
Gibt es weitere konkrete Ratschläge?
Es kann sinnvoll sein, Bewerbungsdossiers zu anonymisieren, also Geschlecht, Alter und Angaben über Kinder zu schwärzen. Die Arbeitsorganisation muss angeschaut werden. An Spitälern muss die 24-Stunden-Schicht aufrechterhalten werden. Die Einsatzplanung ist aber auch mit Teilzeitpensen sehr gut machbar. Voraussetzung dafür ist eine gewisse Flexibilität auf beiden Seiten. Wer im OP steht, kann nicht gehen, um das Kind aus der Kita abzuholen.
Ist es also einfach in den Köpfen, dass ein guter Arzt 60 Stunden pro Woche arbeiten muss?
Natürlich darf man nicht unterschätzen, dass etwa in der Chirurgie Erfahrung und Routine eine wichtige Rolle spielen. Aber die Annahme, man könne nur mit 80-Stunden-Woche und Selbstausbeutung ein guter Arzt sein, ist ein Mythos. Die Qualität wird dadurch nicht zwingend besser. Überarbeitete Ärzte machen eher Fehler. Es muss doch möglich sein, in einem einigermassen vernünftigen Pensum von 30 oder 40 Stunden pro Woche hoch engagiert zu arbeiten – und zwar in allen Bereichen. Auch auf der Notfallstation können Ärzte nicht während vier Tagen ununterbrochen arbeiten.
Warum ist es denn so schwierig, einen Wandel herbeizuführen?
Fairerweise muss man sagen: Wenn man die Arbeitsorganisation umstellt, ist das zu Beginn mit viel Aufwand verbunden. Bei flexiblen Arbeitszeitmodellen müssen Führungskräfte viel mehr überlegen, organisieren und vorausplanen.
Warum sind flexible Arbeitszeitmodelle trotzdem vielversprechender?
Man kann viel Potenzial zurückholen mit gut ausgebildeten Müttern, die in reduzierten Pensen arbeiten wollen und bei starren Vollzeitmodellen und enormen Überzeiten einfach nicht mithalten können. Diese sind meist sehr loyale und motivierte Mitarbeiterinnen, was vor dem Hintergrund des Fachkräfte- und Ärztemangels bedeutend ist.
Der Wandel braucht Zeit. Führt eine Frauenquote für Kaderpositionen besser zum Ziel?
Quoten im Sinne von Zielen sind hilfreich, um Aufmerksamkeit zu steuern. Ohne solche Vorgaben fällt man schnell in alte Muster zurück. Quoten verändern letztlich die Realität. Erst, wenn es zum Beispiel 40 Prozent Chefärztinnen gibt, gilt es auch als «normal», dass Frauen diese Funktionen ausüben. Heikel sind Quoten dort, wo es nicht genügend qualifizierten Nachwuchs gibt.
Seit Jahren schliessen mehr Frauen ein Medizinstudium ab.
Das stimmt. Es sind aber auch die Frauen gefragt. Es ist eine grosse Herausforderung, Oberärztinnen zu motivieren, ihre Teilzeitpensen aufzustocken, sobald ihre Kinder selbstständiger sind.
Gudrun Sander ist Titularprofessorin für Betriebswirtschaftslehre mit besonderer Berücksichtigung des Diversity Managements an der Universität St.Gallen. Sie leitet das Kompetenzzentrum für Diversity und Inklusion, das unter anderem Unternehmen gezielt im Bereich Gleichstellung analysiert und berät. Als Direktorin der Executive School of Management, Technology and Law leitet Sander ausserdem die Weiterbildung «Women Back to Business», die Frauen den Wiedereinstieg ins Berufsleben erleichtern soll. Gudrun Sander ist 54 Jahre alt, wohnt in St. Gallen und ist Mutter von drei erwachsenen Kindern. (jan)
Seit 13 Jahren schliessen in der Schweiz mehr Frauen als Männer ein Medizinstudium ab. Bei den Assistenzärzten liegt der Frauenanteil gemäss der Ärztestatistik FMH bei fast 60 Prozent. Doch auf höheren Stufen haben an Spitälern nach wie vor Männer das Sagen. Schweizweit werden 12 Prozent aller Chefarztposten mit Frauen besetzt.
Am Kantonsspital St.Gallen sieht dies nicht anders aus. Obwohl unter den Oberärzten die Frauen noch in der Mehrheit sind (110 Frauen gegenüber 71 Männern) und die Quote mit 60,7 Prozent über dem nationalen Durchschnitt (45 Prozent) liegt, wird ihr Anteil mit jeder Hierarchiestufe geringer. Unter den Oberärzten, die besondere Funktionen ausführen dürfen, machen Frauen 38,6 Prozent aus. Institute und Abteilungen leiten in 83 Prozent der Fälle Männer. Und auf höchster Stufe sind gerade einmal drei von 26 Chefärzten weiblich (Frauenanteil 11,5 Prozent).
«Wir haben ein grosses Interesse daran, gute Mitarbeiterinnen zu halten», schreibt der Medienbeauftragte des Kantonsspitals St. Gallen, Philipp Lutz, auf Anfrage. In der Regel finde man eine Lösung, wenn Frauen ihr Pensum reduzieren wollten. Oft arbeiteten die Ärztinnen aber auch nach der Geburt zum selben Pensum weiter. Nur rund ein Viertel von den 850 Ärztinnen und Ärzten arbeitet laut Lutz Teilzeit – die Mehrheit von ihnen nicht auf Kaderstufe.
Astrid Weyerbrock ist Chefärztin für Neurochirurgie am Kantonsspital St. Gallen. Schon während der Ausbildung in Freiburg sei sie die einzige Frau gewesen, heute ist sie die einzige Chefärztin auf diesem Gebiet in der Schweiz. «In der Ausbildung habe ich es so erlebt, dass ich als Frau mehr leisten musste als ein Mann, um gefördert zu werden», sagt Weyerbrock. Ähnliches hatte auch die Walliser Ärztin Natalie Urwyler erlebt. Auch hätte sie sich ein Mentoring gewünscht, «jemanden, der Frauen bei der Karriereplanung unterstützt. Das ist wichtig, gerade in der Lebensphase, wo die Familienplanung ansteht.»
Eine grundsätzlich frauenfeindliche Kultur an Spitälern und den Umstand, dass Mutterschaft zum Karriereknick führe, könne sie so aber nicht bestätigen, sagt Weyerbrock. Das hänge aber stark mit der Einstellung der Klinikleitung zusammen. Das bestätigt Barbara Tettenborn, Chefärztin für Neurologie am Kantonsspital St.Gallen. «Bei einer Karriere zu einer Chefarztposition ist immer harte Arbeit erforderlich und auf dem Wege benötigen sowohl Männer als auch Frauen faire Vorgesetzte, die sich an der beruflichen Leistung und Teamfähigkeit der Mitarbeiter orientieren.»
Weyerbrock, die – wie auch die anderen beiden Chefärztinnen am Kantonsspital – keine Kinder hat, findet es wichtig, dass Spitäler Teilzeitmodelle anbieten. «Wenn man motivierte Leute finden möchte, muss man ihnen Strukturen bieten, die es zulassen, trotzdem eine Familie haben zu können», sagt sie. Ansonsten verliere man gute Frauen. «Das kann sich die Medizin nicht leisten.»
So seien Unterstützungsangebote wie Kitaplätze oder auch Wiedereinstiegs- und Coachingprogramme nötig. Solche bietet auch das Kantonsspital St. Gallen seit letztem Jahr an, allerdings nicht frauenspezifisch. Unter diesen Umständen sei es auch in der Chirurgie «machbar und planbar, dass Mitarbeiter auf 80 oder weniger Prozent reduzieren.» Weyerbrock macht es vor: Sie beschäftigt eine Mutter in einem 80-Prozent-Pensum. Allerdings habe sie noch keine Männer gesehen, die, als sie Väter wurden, ihr Pensum reduzierten. In Deutschland hingegen würden auch leitende Ärzte Elternzeit beziehen.
Von einer Frauenquote hält die Chefärztin wenig. «Frauen sind so gut qualifiziert, dass es auch ohne eine Quote gehen sollte.» (jan)