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Ostschweiz
Nach guten Abschlüssen peilen viele St.Galler Gemeinden für 2019 erneut Steuersenkungen an. Umstritten sind vor allem jene, die mit Aufwertungen gemäss neuem Rechnungsmodell begründet werden, wie das Beispiel Buchs zeigt.
Das St.Galler Stadtparlament hat vergangene Woche aufhorchen lassen: Eine bürgerliche Allianz hat bewirkt, dass die Kantonshauptstadt 2019 ihre Steuern senkt, entgegen dem Antrag des Stadtrates und gegen den Willen der Linken im Parlament. Es ist, wenn auch um moderate drei Prozentpunkte (von 144 auf 141), die erste Steuersenkung seit acht Jahren. Wichtig ist das Signal, wie die Antragsteller betonten: Die Stadt habe zu viele Steuern erhoben, dabei müsse sie mit Blick auf die umliegenden Gemeinden attraktiver werden, sagte etwa FDP-Fraktionschef Felix Keller. Auf der andern Seite bezeichnete die Grüne Franziska Ryser die Finanzpolitik der Bürgerlichen mit drei Worten: «Bedauernswert, unverständlich, dumm.»
Das Beispiel der Stadt wird Schule machen im Kanton: Die meisten St.Galler Gemeinden dürften nach erneut guten Rechnungsabschlüssen eine Steuersenkung ins Auge fassen. So viel lässt sich sagen, auch wenn die Mehrheit ihren Beschluss erst im Januar oder Februar fasst. Im Gegensatz zur Kantonshauptstadt haben viele Gemeinden ihre Steuerfüsse jüngst kontinuierlich gesenkt. 2018 waren es allein im Rheintal 14 von 19 Gemeinden, die um 3 bis 12 Prozente heruntergingen. (Vier Gemeinden beliessen den Steuerfuss unverändert, Berneck als einzige Ausnahme erhöhte um 5.)
Zu den gängigen Argumenten für eine Steuersenkung – Gewinn, hohes Eigenkapital, tiefe Verschuldung, Konkurrenzfähigkeit usw. – kommt in diesem Winter eine ungewöhnliche, einmalig gültige Begründung hinzu: die Umstellung auf das neue Rechnungsmodell der St.Galler Gemeinden (RMSG), die im Finanzvermögen (vereinfacht gesagt die frei verfügbaren Vermögenswerte wie Mietliegenschaften oder Land) und teilweise auch im Verwaltungsvermögen (Verwaltungsbauten, Schulen, Strassen usw.) Aufwertungen erlaubt. Und damit ein Potenzial für Steuersenkungen eröffnet . Per 1. Januar 2019 stellen 61 der 77 St.Galler Gemeinden auf das neue Modell um; 11 haben als Pilotgemeinden bereits 2017 (Grabs) oder 2018 danach gerechnet; 5 Gemeinden erhielten einen Aufschub von höchstens zwei Jahren – St.Gallen, Altstätten, Marbach und Rebstein (wegen der inzwischen abgelehnten Fusion) sowie Degersheim.
Einige Gemeinden mit früh terminierten Budgetversammlungen haben ihre Steuersenkung teilweise explizit mit den Optionen der neuen Rechnung begründet. Buchs, mit 31 Millionen Franken Eigenkapital und einem – seit 2011 unveränderten – Steuerfuss von 118 Prozent keine arme Gemeinde, wollte eine Steuersenkung von 8 Prozent. Der Vorschlag des Stadtrates: Die 12 Millionen Franken, die wegen der Neubewertungen mit neuem Modell anfallen, seien während sechs Jahren zur Finanzierung einer Steuersenkung um je 2 Millionen Franken zu verwenden – was besagter Reduktion um acht Prozent entspricht. Vorbehalten eine jährliche Überprüfung, «weil über den Steuereingang der nächsten Jahre eine starke Unsicherheit besteht, vor allem wegen der Steuervorlage 17 und der Neuorganisation des Finanzausgleichs». Die Warnung wurde gehört: Obwohl alle Parteien (FDP, CVP, SVP) mit Ausnahme der SP dafür waren, wurde die Steuersenkung an der Bürgerversammlung Ende November abgelehnt. Votanten hatten eine zu hohe Verschuldung befürchtet und eine Mehrheit gefunden. Zur Überraschung von SP-Stadtpräsident Daniel Gut, der allerdings den Widerstand aus seiner Partei gehört haben muss.
Ein Slogan «Steuersenkung? Nein, danke» dürfte nicht allzu populär sein, wie zwei Toggenburger Gemeinden belegen: Neckertal senkt seinen Steuerfuss um 10 Prozentpunkte auf 132 Prozent, Oberhelfenschwil um 6 auf 139 Prozent. Beide begründen die Senkung – nebst steigenden Steuereinnahmen bei gleichbleibenden Ausgaben – mit der Aufwertung des Finanzvermögens, aber auch mit den neuen Abschreibungsfristen im Verwaltungsvermögen. «Die jährlichen Belastungen sind tiefer als bisher, weil sie auf einen längeren Zeitraum verteilt sind», erklärte Gemeindepräsidentin Vreni Wild (FDP). Man wolle «in der derzeitigen komfortablen Situation den Bürgern etwas zurückgeben». Jedoch: «Sollte sich vom Kanton aus etwas drastisch ändern, müssten wir schlimmstenfalls die Steuern wieder erhöhen.» Die Bürger stimmten zu – einstimmig.
Trotzdem: Buchs zeigt, dass Steuersenkungen, die auf Buchgewinnen basieren, politisch umstritten sein dürften. Welche Gemeinden mit einer Steuersenkung aufgrund Aufwertungsreserven liebäugeln, ist zu diesem Zeitpunkt schwierig abzuschätzen. Und wer das tut, wird wohl – wie Neckertal – noch andere Begründungen anführen. Weil erst Einzelfälle vorliegen, kann weder das Amt für Gemeinden noch die Vereinigung der St. Galler Gemeindepräsidenten (VSGP) eine Tendenz erkennen. Amtsleiter Alexander Gulde hat sich ebenso wie VSGP-Geschäftsführer Bernhard Keller mit den Optionen des neuen Rechnungsmodells im Detail befasst. Beide weisen auf die Möglichkeiten hin, hüten sich jedoch, Empfehlungen abzugeben. Das Vorgehen der neun Pilotgemeinden zeigt, dass verschiedene Möglichkeiten und Mischformen gewählt werden, was den Vergleich nicht einfacher macht. «Man kann die Gemeinden nicht über einen Leisten brechen, es kommt extrem auf den je eigenen Haushalt an», sagt Keller.
Die Neubewertung des Finanzvermögens ist im neuen Modell vorgeschrieben, jene des Verwaltungsvermögens fakultativ. Aufwertungen aus dem Finanzvermögen sind immer ins Eigenkapital zu überführen. Je nach gewählter Sorte Eigenkapital (Bilanzüberschuss, Ausgleichsreserve, Reserve Werterhalt Finanzvermögen), können sie für Steuersenkungen eingesetzt werden. Im Finanzvermögen können, etwa bei wichtigen Mietblocks einer Gemeinde, stille Reserven in Millionenhöhe zum Vorschein kommen. Doch im Verwaltungsvermögen versprechen die länger verteilten Abschreibungen das noch grössere Volumen. Ohne Neubewertung öffnet sich als Übergangseffekt die nächsten 10 bis 15 Jahre ein finanzpolitischer Spielraum – und der kann nun höhere Ausgaben, höhere Gewinne oder eben tiefere Steuerfüsse zulassen.
Für gewisse Gemeinden könne sich die Strategie lohnen, zwecks Ansiedlungspolitik ein paar Jahre auf markant tiefere Steuern zu setzen, sagt VSGP-Geschäftsführer Keller. «Wenn es gelingt, so viel Steuerkraft zu gewinnen, dass man davon zehren kann, wäre das ein Gesellenstück. Das muss der Bevölkerung aber sehr transparent bewusst gemacht werden.» Gulde spricht von einer «Risikostrategie mit Hoffnung auf den Zuzug guter Steuerzahler», die sich auszahlen könne oder auch nicht (wie etwa Luzern erfahren musste).
Bei allem Risiko verlockende Aussichten für Städte mit Zentrumslasten? Rorschach beispielsweise hat die Optionen speziell geprüft, auch mit externen Beratern. Stadtpräsident Thomas Müller (SVP) will vor seinem Abgang noch «ein Zeichen setzen». Doch er lässt die Katze noch nicht aus dem Sack: «Wir kennen das theoretisch mögliche Ausmass einer Steuerfusssenkung; der Entscheid hat aber politische Entwicklungen zu berücksichtigen. Der Antrag an die Bürgerversammlung ist noch nicht formuliert.» In der Steuerfuss-Debatte im St.Galler Stadtparlament waren die Optionen des neuen Modells kein Thema – freilich auch darum, weil die Stadt 2019 noch nicht umstellt. Stadtpräsident und Finanzchef Thomas Scheitlin (FDP) kann das recht sein, denn er baut selber nicht auf den «kurzfristigen Effekten» solcher buchhalterischer Massnahmen; deren Nachhaltigkeit sei auch im Sinn der «Good Governance» fragwürdig. Die hat auch der kantonale Finanzchef angemahnt: Auf Fragen in der Novembersession des Kantonsrates gab Benedikt Würth zu verstehen, dass Steuersenkungen aufgrund der fakultativen Aufwertungen «finanzpolitisch nicht sehr klug» seien, aber «à la bonheur, wenn das jemand will». Nur solle, wer jetzt Steuern senke, «dann nicht klagen», wenn es dann härter komme. Und man könne nicht «nicht davon ausgehen, dass das Wachstum die Ausfälle bremst».
Die Diskussion über Steuersenkungen mit buchhalterischen Kniffs hat in St.Gallen erst begonnen; hitzig war sie in den meisten Kantonen. «Wie sich Winterthur über Nacht schönrechnet», titelte die NZZ 2013, als Zürich das harmonisierte Rechnungsmodell einführte. Dass die hoch verschuldete Sulzerstadt «per Federstrich» zu mehr Eigenkapital komme, stiess der Stadt Zürich sauer auf. Finanzpolitische Auseinandersetzungen sind oft ideologisch aufgeladen, eigentliche Glaubenskämpfe. Oder wie es der frühere Finanzamtsleiter der Stadt
St. Gallen und Mitstreiter der Vollgeld-Initiative, Reinhold Harringer, einst sagte: «Buchhaltung und Finanzpolitik haben viel mit Werten zu tun. Wie man ein Budget aufstellt, dahinter steht immer ein bestimmtes Staatsbild.»