«Gefangene sind eine Risikogruppe»

ST.GALLEN. Der Mann, der das Rathaus in die Luft sprengen wollte, hat sich mit grösster Wahrscheinlichkeit das Leben genommen - das wäre der dritte Suizid in St.Galler Gefängnissen innert kurzem. Ruedi Osterwalder, früherer Chefarzt der Psychiatrie in Wil, im Gespräch.

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Der schwierige Blick in die Freiheit: Manche Gefangene kommen mit ihrer Situation nicht zurecht und nehmen sich das Leben. (Bild: Keystone)

Der schwierige Blick in die Freiheit: Manche Gefangene kommen mit ihrer Situation nicht zurecht und nehmen sich das Leben. (Bild: Keystone)


Herr Osterwalder, der Mann, der einen Anschlag aufs St.Galler Rathaus verübt hat, ist tot. Was hat diese Nachricht in Ihnen ausgelöst?
Ruedi Osterwalder: Ich habe berufshalber schon viele Situationen erlebt, in denen Menschen nicht mehr leben wollten. Psychische Erkrankungen sind manchmal so schwer, dass man akzeptieren muss, dass die Selbsttötung nicht zu vermeiden war. Menschlich betrübt es mich aber immer wieder, wenn es nicht mehr gelingt, jemandem Lebenssinn zu vermitteln.

Bestätigt sich die Selbstmord-These, haben sich seit November in St.Galler Gefängnissen nicht weniger als drei Häftlinge das Leben genommen. Ist es denkbar, dass der berühmte Nachahmungseffekt hier gespielt hat?
Osterwalder: Das ist im konkreten Fall schwierig zu sagen. Klar ist: Dieser Nachahmungseffekt existiert, das weiss man aus der Suizidforschung. So gab es beispielsweise einmal einen Spielfilm, der zeigte, wie sich ein Mädchen vor einen Zug warf. In der Folge konnte man nachweisen, dass es einige Selbsttötungen auf dieselbe Art gab.

Was läuft in der Psyche der Betroffenen denn genau ab, dass sie es anderen Selbstmördern gleichtun wollen?
Osterwalder: Zunächst: Das betrifft nur Menschen, die ohnehin schon den Gedanken daran haben, sich das Leben zu nehmen. Sie können dann in jemandem, der das schon getan hat, eine Art Vorbild sehen, das jene Befreiung erreicht hat, die sie sich schon länger erhoffen. Der Vorgänger gibt ihnen sozusagen den letzten Anstoss.

Der Mann, der das St.Galler Rathaus sprengen wollte, hätte nach Jahren der Haft Ende 2011 die Möglichkeit gehabt, vorzeitig entlassen zu werden. Da ist es doch vom rationalen Standpunkt her wenig verständlich, dass er gerade jetzt nicht mehr leben wollte.
Osterwalder: Ja, das fand ich auch erstaunlich. Aber vielleicht steckte er in einer aktuellen Krisensituation, und das nahende Datum der Entlassung hatte keinen Einfluss mehr.

Kann auch Angst mitgespielt haben vor der Rückkehr ins normale Leben, vor dem Neuanfang, vor der gesellschaftlichen Ächtung als Ex-Gefangener?
Osterwalder: Den Einzelfall kann ich nicht beurteilen. Allgemein ist aber klar, dass der Strafvollzug zahlreiche negative Nebenwirkungen für die Betroffenen hat. Zum Teil haben sie grosse Angst, ins gewöhnliche soziale Leben zurückzukehren. Vieles hängt von der familiären und beruflichen Situation ab.

Beim Häftling seien keine Auffälligkeiten festgestellt worden, teilte der Direktor der Strafanstalt Saxerriet mit. Hätten die Verantwortlichen genauer hinschauen und hinhören müssen? Der Mann soll laut Anstaltsleitung ja stärker unter dem Freiheitsentzug gelitten haben als andere.
Osterwalder: Mein Eindruck ist folgender: Wenn Häftlinge Probleme haben und ihre Sorgen äussern, wird ihnen Hilfestellung gegeben. Häufig äussert sich aber ein Mensch nicht mehr, wenn er abgeschlossen hat - er sendet keine Signale mehr aus.

Für den Saxerriet-Direktor weist der Suizid in seiner Anstalt darauf hin, dass die Zahl der Personen mit psychischen Problemen in den Strafanstalten zunimmt. Teilen Sie diese Ansicht?
Osterwalder: Ohne entsprechende Statistiken zu kennen, kann ich diese These nachvollziehen.

Muss die psychische Betreuung der Häftlinge somit verstärkt werden?
Osterwalder: In Saxerriet gibt man den entsprechenden Personen meiner Erfahrung nach schon in hohem Masse Hilfestellung. Allenfalls geht es darum, diese Dienste zu verstärken. Ich gehe davon aus, dass das auch passieren wird, wenn der Direktor festgestellt hat, dass es immer mehr Menschen mit solchen Problemen gibt.

In Teilen der Bevölkerung herrscht aber ohnehin schon der Eindruck vor, dass die Gefangenen in Schweizer Anstalten verhätschelt werden.
Osterwalder: Wer die Realität kennt, weiss, dass es für die meisten Betroffenen eine harte Massnahme ist, jahrelang weggesperrt zu werden. Zudem braucht es die Gratwanderung zwischen Bestrafung und Betreuung, weil der Gefangene ja irgendwann entlassen wird und wieder in der Gesellschaft bestehen muss.

Sind Selbstmorde auch in Gefängnissen nicht einfach als freier Entscheid von Menschen zu akzeptieren, die des Lebens überdrüssig sind, anstatt jetzt nach verstärkter Betreuung und Überwachung zu rufen?
Osterwalder: Studien zeigen, dass Gefangene eine Risikogruppe sind - ihre Suizidrate ist erhöht. Jene, die mit ihnen arbeiten, sollen entsprechend ausgebildet und darauf sensibilisiert sein, wenn jemand total freudlos wird oder sich völlig zurückzieht. Grundsätzlich haben Sie aber Recht: Auch so wird es nicht möglich sein, jeden Suizid in Gefängnissen zu vermeiden.

Interview: Daniel Walt