Seit Jahren pilgert unsere Kolumnistin dem Stern Ostschweiz nach. Der tut sich schwer damit, seine Star-Qualitäten zum Leuchten zu bringen. Die leise Hoffnung zwischen den Jahren gilt dem James-Webb-Teleskop: Just zu Heiligabend in den Weltraum geschickt, kommt es diesem Stern vielleicht ebenso auf die Spur wie jenem von Betlehem.
Es ist wieder einmal vorbei, das Lichteranzünden und Singen im dezemberlichen Dunkel, das sich bereits wieder zum Frühling hin zurückzuziehen beginnt, minutenweise, aber immerhin. Vorbei das grosse Geschenkeauspacken, während dessen unweigerlich alle liebevoll beschrifteten Geschenkkärtli irgendwie verloren gehen, so dass Schreie wie «Wer hat mir denn jetzt schon wieder diese fürchterlichen Wollsocken aufs Auge gedrückt?» die Weihnachtsmusik übertönen, während meine Nichte, die mit feuchten Rehaugen ihrem aktuellen Liebsten auf dem Handy ewige Treue schwören will, sich bitter beklagt, dass ihre Internetverbindung nicht funktioniert, und mein Neffe wie jedes Jahr den Inhalt seines Rotweinglases flächendeckend über die weisse Tischdecke verteilt, während seine Mutter mit roten Papierservietten den Kollateralschaden auf seinem ebenfalls weissen Hemd zu beheben versucht und damit die Fleckenorgie energisch um einen weiteren Rotton bereichert.
Vorbei. Die Verwandtschaft ist in Begleitung eines Katers von den Ausmassen eines Säbelzahntigers zur Planung ihrer Neujahrsvorsätze nachhause aufgebrochen (keine weissen Hemden zur Weihnachtsfeier tragen …), und ich sinke in wohliger Müdigkeit in meinen Lesesessel und damit in die Zeit, die meine Mutter immer die Zeit «zwischen den Jahren» nannte. In einem Zwischenraum, in dem das alte Jahr noch seine letzten glimmenden Kohlen durch eine sich schliessende Tür schimmern lässt und das neue Jahr erste Sonnenstrahlen durch eine sich öffnende Tür zu werfen beginnt. «Die Zeit geht nicht, sie steht still», heisst es in einem Gedicht Gottfried Kellers, «wir ziehen durch sie hin, / Sie ist ein Karawanserei, / Wir sind die Pilger drin.»
Im Zeitalter von Google Maps sollte es eigentlich einfach sein, für eine Pilgerfahrt durch das kommende Jahr Orientierung zu finden – wäre da nicht das Problem, dass die Zukunft, wie die vergangenen Jahre gezeigt haben, jeglichen Anstrengungen kartographischer Antizipation aktiven Widerstand entgegenzusetzen scheint. So besinne ich mich dann lieber auf die althergebrachte Technik, mich an den Sternen zu orientieren; die sind offenbar weniger anfällig für Virusinfektionen als die Lebensplanung des 21. Jahrhunderts – wer hätte je von einem Corona-infizierten Stern gehört? Aber das kann sich natürlich rasch ändern, nachdem pünktlich zu Heiligabend bekanntlich das James-Webb-Teleskop in den Weltraum geschickt worden ist, um die Geschichte des Universums zu erhellen und, wie man annehmen darf, dabei auch dem Stern von Bethlehem auf die Spur zu kommen. Und allenfalls zu erkunden, ob er Rohstoffe enthält, die gewinnbringend abgebaut werden könnten. Oder gar ausserirdisches Leben, dem man dann erst mal begreiflich machen müsste, welch virulente Rolle ihr Wohnort für den westlichen Teil der irdischen Zivilisation gespielt hat.
Aber vielleicht sieht man durch dieses Teleskop ja auch den Stern Ostschweiz, wer weiss? Einen Stern, dem ich seit Jahren nachpilgere, und der sich immer noch so schwer damit tut, seine Star-Qualitäten zum Leuchten zu bringen. Als wir hiesigen Freunden vor unserer Hochzeit erzählten, mein Mann sei eben dabei, von Zürich in die Ostschweiz zu ziehen, tauschten sie tiefe Blicke und erklärten mir dann mit bedeutungsschwerer Stimme, er müsse mich offenbar sehr lieben. Ich habe bis heute nicht aufgehört, darüber zu lachen. Und die Ostschweiz – wie er – zu lieben. Guten Rutsch, liebe Ostschweiz – mögen Dir in 2022 zahlreiche weithin leuchtende Kometenschweife beschieden sein!
Ulrike Landfester ist Professorin für Deutsche Sprache und Literatur an der HSG. Sie schreibt diese Kolumne immer montags im Turnus mit Toni Brunner, Samantha Wanjiru und Walter Hugentobler.