«Gallus war ein Elsässer»

Der Rorschacher Historiker Max Schär spricht aus, was viele St. Galler nur ungern oder lieber erst gar nicht hören: Gallus stammt nicht aus Irland, seine Heimat war das Elsass. Nachzulesen in Schärs Gallus-Biographie – druckfrisch.

Regula Weik
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Max Schär - als Historiker und evangelischer Theologe fasziniert von den katholischen Heiligen. (Bild: Ralph Ribi)

Max Schär - als Historiker und evangelischer Theologe fasziniert von den katholischen Heiligen. (Bild: Ralph Ribi)

ST. GALLEN. Die vergangenen zweieinhalb Jahre hat er ihn begleitet – intensiv, Tag und Nacht. Er riss ihn aus dem Schlaf, er lenkte ihn von der Zeitungslektüre ab, er sass mit ihm am Mittagstisch. Doch gestern hatte sich Max Schär von ihm losgesagt. Der andere ist «verschrieben», liegt kiloschwer auf dem Tisch und bald auf der Theke der Buchhandlungen. Gallus heisst Schärs Begleiter. Der Ire und Stadtgründer von St. Gallen? Der Rorschacher Historiker verwirft die Hände – er, der sonst ruhig erzählt, kaum gestikuliert, ausser auf Regieanweisung des Fotografen. Die Herkunftsfrage lockt Schär aus der Reserve. «Gallus kommt aus dem Elsass», sagt er bestimmt. Den fragenden Blick des Gegenübers beantwortet er mit: «Irgendetwas hatte er schon mit Irland zu tun, vermutlich war einer der beiden Elternteile irisch.»

Schär arbeitet gründlich, akribisch genau. Er will «der Sache auf den Grund gehen», er will wissen, wie es wirklich war – das ist die Motivation für seine wissenschaftliche Tätigkeit. Und nicht ein allfälliger Ehrenplatz in der Galerie bedeutender Historiker. «Es gibt in St. Gallen zwei Fraktionen von Wissenschaftern: eine, die offen ist für die neue Erkenntnis, und eine, die an der Irland-These festhält, gehauen oder gestochen.» Tut es weh, in gewissen Historikerkreisen nicht ernst genommen zu werden? Schär lächelt verschmitzt. «Ich kann damit leben.» Nach einer Pause sagt er: «Ich vertraue darauf, dass sich die neue Erkenntnis irgendwann durchsetzen wird.»

Der Kompromiss

Der kleine Mann mit dem Rucksack macht nicht den Eindruck eines Geschichtenerzählers um der Aufmerksamkeit oder des Skandals willen. Die schnelle These ist ihm zuwider. Er überprüft jedes Detail, recherchiert jede Ungenauigkeit aus – fügt die Erkenntnisse zusammen – «wie beim Puzzlespielen» und bis sich Gallus' Herkunft nicht mehr leugnen lässt. Den Kritikern seiner Forschungsergebnisse bietet er einen Kompromiss an: «Gallus ist irischer Abstammung, aber nicht irischer Herkunft.»

Schär hat noch andere «Ungereimtheiten» entdeckt. Etwa das Jahr von Gallus' Tod. «Um 650» sei die übliche Formulierung, Schär setzt es früher an – «um 640», sagt er und fährt fort: «Zwischen 629 und 660 wird einem schier jede Jahreszahl angeboten.»

Schär widerspricht auch dem Bild des Einsiedlers. «Gallus hatte stets Partner um sich. Er verstand sich als Berater und Helfer der Menschen, als Primus inter pares.» Auch als Missionar? Schär verneint: «Das war er nur am Rande und nur kurze Zeit. Kein Ruhmesblatt. Seine Missionarstätigkeit war überhaupt nicht nachhaltig.»

An Heiligen interessiert

25 Jahre forscht Schär bereits über Gallus. 500 Seiten dick liegt das Ergebnis dieser Tätigkeit nun auf dem Tisch – «Gallus. Der Heilige in seiner Zeit». Ursprünglich wollte der Historiker und Theologe ein Buch über alle mittelalterlichen Heiligen am Bodensee verfassen. «Ich mag die Heiligen», sagt er – als evangelischer Theologe notabene. Er stolperte über sich selber. Schär arbeitet genau, korrekter genaustens, und so wäre aus der Idee wohl ein x-tausendseitiges Werk geworden. Schär reduzierte – auf Otmar, den Gründer des Klosters St. Gallen. Doch inzwischen hat er Otmar «auf Eis gelegt»; dessen Jubiläum ist 2019, Gallus drängte stärker, sein Jubiläum ist 2012.

Schärs Buch ist zweigeteilt: Der erste Teil erzählt von der Zeit, der zweite von der Person des Gallus. Was beeindruckt ihn an der Person? Er überlegt kurz: «Sein Mut.» Die Trennung von Kolumban, «seinem Übervater», habe viel Kraft gebraucht und die feste Überzeugung, dass der eingeschlagene Weg der richtige sei.

Geschichte neu schreiben

Wird Schär nun zum Gallus-Missionar? Er winkt ab. Er ist froh, Gallus nun loslassen zu können. Otmar wartet. Oder die Belletristik – «einmal den Ideen freien Lauf lassen, ohne dass jeder Buchstabe wissenschaftlich begründet sein muss». Davon träumt er. Und davon, dass die Geschichtsbücher eines Tages neu geschrieben werden – mit Gallus als Elsässer.

Max Schär: Gallus. Der Heilige in seiner Zeit. Schwabe Verlag Basel. 2011. 500 Seiten. Fr. 48.–