FREMDBETREUUNG: Ein Zuhause am Ende des Weges

Seit 2013 steigt die Zahl der Pflegefamilien im Kanton St. Gallen. Vor zwei Jahren haben Astrid und Jürg Schmid den heute 16-jährigen Sebastian bei sich aufgenommen. Ein Besuch bei der Familie im Toggenburg.

Katharina Brenner
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Katharina Brenner

katharina.brenner@tagblatt.ch

Der Weg zum Haus ist unwirtlich. Er führt steil bergab, bedeckt von einer dicken Schneeschicht. Nach einer Kurve fällt aus einem Fenster Licht auf den Schnee – ein Haus am Ende des Weges. In der Dunkelheit wirkt es umso heimeliger. Für Astrid und Jürg Schmid ist dieses Haus seit 16 Jahren ihr Zuhause, für ihren Pflegesohn Sebastian seit zwei Jahren. «Wir wollten einem Kind helfen», sagt Astrid Schmid. Sie rührt die Minestrone um, die auf dem Herd köchelt, und erzählt, wie sie im Internet recherchierte. Dabei sei sie auf Pflegefamilien im Kanton Glarus gestossen. Sie und ihr Mann leben im Kanton St. Gallen, am Ortsrand von Hemberg im Toggenburg. Die zuständige Sozialarbeiterin traf das Paar. «Wer Pflegeeltern werden will, muss sich sprichwörtlich bis auf die Unterwäsche ausziehen», sagt Astrid Schmid. Die Finanzen, die Familiengeschichte – alles müsse auf den Tisch. «Das ist gut so, wenn man bedenkt, was mit den Verdingkindern passiert ist.» Am Ende habe die Sozialarbeiterin durchblicken lassen, das Ehepaar sei zu alt, um Pflegeeltern zu sein. Astrid Schmid ist 63 und diplomierte Psychiatriepflegefachfrau, ihr Mann Jürg ist 65 und pensionierter Journalist.

Ein probeweiser Aufenthalt an den Wochenenden

Sie hörten lange nichts mehr vom Sozialamt. Bis zu dem Tag, an dem Sebastian eine neue Familie brauchte. Er war 14 Jahre alt und hatte mit seiner damaligen Pflegefamilie wenig Glück gehabt. Nun lebte er in einer betreuten Wohngruppe. «Er sehnte sich nach einem richtigen Zuhause», sagt Astrid Schmid. Und er wollte in eine Familie ohne andere Kinder. Probeweise verbrachte er einige Wochenenden in Hemberg. «Das war schwierig.» Sebastian sei wegen seiner leidvollen Lebensgeschichte sehr verschlossen gewesen. «Aber wo hätte er hin sollen, wenn nicht zu uns? Also haben wir ihn aufgenommen.» Bis im vergangenen Sommer verbrachte er die Wochenenden in Hemberg, seitdem lebt er die ganze Woche dort. «Er ist etwas offener geworden.» Inzwischen hat Sebastian wieder Kontakt zu seinen leiblichen Eltern. Einmal im Monat trifft er sie in Begleitung eines Sozialarbeiters. Ist er für das Ehepaar Schmid wie ein Sohn? «Nein, dafür war er schon zu alt, als er zu uns gekommen ist.» Beide sind in zweiter Ehe verheiratet, er hat zwei erwachsene Kinder, sie drei.

Die Pflegefamilie Schmid ist eine von vielen im Kanton St. Gallen. Ende 2015 haben 253 Familien 338 Pflegekinder im Alter von wenigen Tagen bis zur Volljährigkeit betreut. Im Jahr 2013 waren es 180 Pflegefamilien, seitdem hat die Zahl jedes Jahr zugenommen. Die aus dem vergangenen Jahr wird noch ermittelt. «Es zeigt sich eine Tendenz, dass der Anstieg bleibt, aber etwas abflacht», sagt Brigitte Wüst, Bereichsleiterin Adoptiv- und Pflegefamilien im Kanton St. Gallen. In den anderen Ostschweizer Kantonen lässt sich keine kontinuierliche Zunahme beobachten. Wüst erklärt den Anstieg in St. Gallen damit, dass seit 2013 nicht nur die Aufnahme von unter 16-Jährigen, sondern die aller Kinder und Jugendlichen bewilligungspflichtig ist. Und die Betreuung in Pflegefamilien scheine an Bedeutung gewonnen zu haben.

Er wollte in einem ruhigeren Umfeld leben

Im Haus von Familie Schmid geht die Tür auf, die beiden Hunde springen auf. Jürg Schmid und Sebastian kommen herein. Schmid hat ihn an der Haltestelle abgeholt. Sebastian arbeitet unter der Woche in der Velowerkstatt einer betreuten Einrichtung in Uzwil. «Dort gefällt es mir gut», sagt er. Sebastian spricht nicht viel, aber er ist höflich und antwortet mit Bedacht. In der Wohngruppe sei es ihm zu laut geworden, vor allem mit den Jüngeren. «Ich wollte eher auf dem Land leben, bei Tieren.» Davon gibt es bei Astrid und Jürg Schmid genug. Neben den Hunden hält das Paar Katzen, Tauben, Pfauen und eine ganze Hühnerzucht. «Dieses Hobby ist noch nicht übergesprungen», sagt Jürg Schmid. «Dafür hat der Coiffeur einmal gesagt, dass man gleich sehe, dass wir Mutter und Sohn seien», sagt Astrid Schmid. Die Familie lacht. Sie sitzt inzwischen um den Küchentisch und isst Minestrone. Die Abende verbringen die drei gemeinsam hier. Nächstes Jahr wird Sebastian volljährig. Er wird aber vorerst im Haus der Pflegeeltern am Ende des Weges bleiben.