Nächste Woche treffen sich die Schweizer Freimaurer in St. Gallen zur Jahresversammlung. Bei vielen stösst die Vereinigung auf Misstrauen. Die prominenten Mitglieder und die Verschwiegenheit machen sie verdächtig.
Der Raum wirkt. Spärlich ist die Beleuchtung, ein Altar steht auf einem dreistufigen Podest. Ein Lichtstrahl leitet den Blick auf einen goldenen Zirkel mit Winkel – das Symbol der Freimaurer. Oberhalb des Altars thront das allsehende Auge. Links davon erstrahlt ein Mond, rechts davon die Sonne. Ein dreiarmiger Kerzenständer steht auf dem Altar. Längsseitig sind in zwei Reihen Holzbänke angebracht. Es ist still.
So stellt man sich den Raum einer Geheimloge vor. Und so sieht er auch aus. Wir befinden uns an der Zeughausgasse in St. Gallen, im oberen Stock des Restaurants Schlössli, in unmittelbarer Nähe zur Kathedrale. Drei Freimaurerlogen treffen sich hier regelmässig: die Concordia, die Humanitas in Libertate und der Bauplan. Der Zugang zum Tempel ist normalerweise den Brüdern vorbehalten. Für uns macht Urs Weber eine Ausnahme. Weber ist langjähriger Freimaurer und OK-Präsident der diesjährigen Jahresversammlung der Grossloge Alpina – so etwas wie des Dachverbands der Schweizer Freimaurerlogen (siehe Kasten).
Urs Weber: den Freimaurer nimmt man ihm, ohne eine Sekunde zu zögern, ab. Tadellos gekleidet, breitschultrig, gross gewachsen, graumeliertes Haar, in der Hand ein Lederkoffer. Der 64jährige Jurist wirkt ein wenig aristokratisch, als ob er sich an eine andere, bessere Gesellschaft gewohnt wäre. Das Gesicht zeugt von einem erfahrungsreichen Leben. Doch vor allem sein Blick ist speziell. Bestimmt, ernst und durchdringend, verschwörerisch gar. Sieht so jemand aus, der in den Hinterzimmern die Weichen der Geschichte stellt?
Die Freimaurerei umweht seit Jahrhunderten der Hauch des Geheimnisvollen. Die Gründerväter der USA: zahlreiche Freimaurer. Das allsehende Auge auf der Ein-Dollar-Note: ein Symbol der Freimaurer. Auch der erste Bundespräsident der Schweiz war nachweislich ein Freimaurer, genauso wie der britische Kriegspremier Winston Churchill, der Dichter Johann Wolfgang von Goethe und der Komponist Wolfgang Amadeus Mozart. Gestern wie heute stehen die Freimaurer unter Verdacht, hinter einer Weltverschwörung zu stehen. In vielen Staaten ist die Freimaurerei gesetzlich verboten. Die Schweiz lehnte eine Volksinitiative für ein Verbot zwar 1937 ab, doch noch letztes Jahr stimmte beinahe das halbe Walliser Parlament für einen Offenlegungszwang für Parlamentarier, die der Freimaurerei angehören – weil diese angeblich den Staat unterwanderten.
Urs Weber kennt das Misstrauen gegenüber den Freimaurern. Er sagt: «Ich finde es schön, wenn man uns diese Macht zubilligt, doch leider ist nichts davon wahr.» Weber zieht eine klare Linie zwischen der Vergangenheit und Gegenwart. «Richtig ist, dass die Freimaurerei ein tragender Pfeiler der Aufklärung war; die Französische Revolution oder die Gründung des Amerikanischen Bundesstaates wäre ohne prominente Freimaurer kaum denkbar.»
Die Grundpfeiler der Freimaurerei sind Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität – Werte, die in der frühen Neuzeit einen schweren Stand hatten, sind heute im Westen zumindest auf Papier durchgesetzt. Die Freimaurer hätten viele Ziele erreicht, sagt Weber. «Wir sind in gewissem Sinne die Opfer unseres Erfolgs geworden.» Die heutige Aufgabe der Freimaurerei sieht Weber in der «Einübung einer moralischen Lebenspraxis». Die Loge vermittle den Mitgliedern Werte für die eigene Lebensführung. Oder wie es Weber in seiner symbolhaften Sprache sagt: «Wir geben den Leuten Werkzeuge in die Hände, um an sich zu arbeiten. Die Arbeit müssen sie selber machen.»
Den Freimaurern ist es verboten, den Namen ihrer Brüder weiterzugeben. Und um sich als Freimaurer zu erkennen zu geben, gibt es Codes, zum Beispiel die Art zu grüssen. Will man herausfinden, ob es sich beim Gegenüber um jemand seinesgleichen handelt, stellt man eine bestimmte Frage und wartet die Antwort ab. Auch diese Erkennungszeichen dürfen nicht verraten werden – geschweige denn die Rituale der Loge. Wieso diese Geheimnistuerei, wenn die Freimaurer angeblich nichts Verschwörerisches tun? Webers Antwort führt in die Geschichte. Mit ihren freiheitlichen Ideen waren die Freimaurer ehemals eine Bedrohung für die herrschende autoritäre Ordnung. Dementsprechend vorsichtig mussten die Brüder sein. Urs Weber räumt ein, dass die Verschwiegenheit in der heutigen Zeit zu Missverständnissen Anlass geben kann. «Gleichzeitig müssen wir uns bewusst sein, dass Traditionen sehr viel zählen bei uns – und dazu gehört auch die Tradition der Verschwiegenheit.»
Traditionell ist auch die Stellung der Frau. In den regulären Logen habe sie nichts verloren. Webers Position ist eine Mischung aus Fatalismus und Gutheissung. Er verweist auf das Freimaurer-Regelwerk der «Alten Pflichten» und der Position der englischen Grossloge. «Nehmen wir Frauen in unsere Loge auf, verlieren wir die Regularität und können uns damit nicht mehr mit anderen Logen austauschen.» Weber legt Wert auf die Feststellung, dass es auch Frauenlogen gebe – die allerdings keine offiziellen Kontakte mit den angestammten (Herren-)Logen haben dürfen. Er sagt: «Die Anwesenheit von Frauen würde die Gesprächsdynamik verändern, viele Männer sind froh, auch mal unter sich zu sein.»
Die Freimaurer treten fast wöchentlich zusammen. Angesprochen werden sollen sowohl Verstand als auch Gefühl. Konferenzen bestehen aus einem Vortrag und einer Diskussion und sollen den Geist ansprechen. Meist geht es dabei um Philosophie oder Psychologie. Die Grenzen der Toleranz, die chinesische Kunst der List, die Symbolik der Astrologie oder Träume waren kürzlich Themen der St. Galler Logen.
Die spirituell-emotionale Seite wird dagegen bei der Tempelarbeit angesprochen. Rund einmal im Monat findet im Tempel ein etwa zweistündiges Ritual statt. Was hier genau passiert, untersteht der Geheimhaltung – auch bei Urs Weber, der sonst sehr offen Auskunft gibt. Weber macht den Vergleich mit einem Theaterstück und einem Gottesdienst. Alles laufe streng nach Planung ab. Er erinnert sich an sein Initiationsritual vor rund 40 Jahren. «Das war extrem intensiv – es war, als ob mein Wesen aufging.»
Weber kam über seinen Vater und Grossvater in eine Loge, doch grundsätzlich sei der Zugang für jeden offen, sagt er. Voraussetzung sei der Willen, eine moralisch bessere Person zu werden – und an ein höheres Wesen zu glauben. Irgendwie paradox: Während die katholische Kirche und der Islam die Freimaurerei bis heute als unvereinbar mit dem Glauben ansieht, lehnt die Freimaurerei Atheisten ab. Selbst Agnostiker hätten es schwer, in einer Loge unterzukommen, sagt Weber. An welchen Gott man hingegen glaube, sei nicht wichtig. Gemäss den «Alten Pflichten» sind Gespräche über Religion und Politik gar verboten.
Die Freimaurerei gliedert sich in drei Grade: in Lehrlinge, Gesellen und Meister. Allen ist gemeinsam, dass sie moralisch bessere Personen werden wollen. Oder wie es Urs Weber formuliert: «Wir sind alles unbehauene Steine, wenn wir auf die Welt kommen. Jeder Freimaurer verfolgt das Ziel, aus seinem Stein einen Kubus zu machen und zusammen mit seinen Mitmenschen den Tempel der Humanität zu bauen.» Dazu widmet sich der Lehrling der Selbsterkenntnis, der Geselle der Selbstbeherrschung und der Meister der Selbstveredelung.
Die Freimaurerei kämpft seit Jahren mit Mitgliederrückgängen, viele Logen sind überaltert. Weber sagt, dass die Idee der Freimaurer noch nie so aktuell gewesen sei wie heute. «Die Freimaurerei könnte im 21. Jahrhundert zu einer Brückenbauerin in einer Welt werden, in der die Leute immer mehr auf ihre eigenen Interessen schauen, anstatt auf Solidarität und Verbindlichkeit.»