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Ostschweiz
Auf den Tag genau seit 30 Jahren ist die Schweiz eine vollwertige Demokratie. Denn es dauerte mehr als 140 Jahre, bis Frauen im ganzen Land als gleichwertige Bürger angeschaut wurden und entsprechende Rechte erhielten
Sie gilt als Musterschülerin der Demokratie schlechthin: konkordant, föderal und urdemokratisch, die Schweiz.
Doch just beim wichtigsten Pfeiler, dem Stimm- und Wahlrecht, hinkte das Land jahrelang allen andern hinterher. Erst 1971 und damit mehr als 120 Jahre nach der Gründung des Bundesstaates 1848 erhielten die Frauen ein Mitspracherecht. In beiden Appenzell dauerte es nochmals 20 Jahre länger, bis die Frauen die gleichen Rechte wie die Männer erhielten.
Wieso dauerte es so lange?
Diese Frage stellt sich umso mehr, weil die Schweiz als Pionierin galt: Einzelne Kantone führten 1831 das allgemeine Männerwahlrecht ein. 1848 war die Eidgenossenschaft einer der ersten Staaten, der faire Wahlen einführte. Doch diese fortschrittliche Rolle gab die Schweiz ab, als Australien (1902), Finnland (1906) und Norwegen (1913) das Frauenwahlrecht einführten. Es folgten bald darauf die Deutschen, die Österreicher, die Briten, die Franzosen und Italiener. Ja sogar in Sri Lanka, Brasilien, der Türkei und Usbekistan gewährten die Männer den Frauen in den 1930er Jahren Mitbestimmungsrechte.
Nur die Schweizer, die wollten das nicht.
Dabei mangelte es nicht an Versuchen oder politischem Wille seitens der Frauen. Sie engagierten sich nicht nur während der Kriege, sorgten sich um Haus und Hof, um Kranke und Alte. Sie setzen sich auch zunehmend ohne politische Rechte für bessere Gesetze ein, etwa für den «Sirup-Artikel»: Dass Beizen keinen Alkohol an Minderjährige ausschenken dürfen und dass sie mindestens ein analkoholisches Getränk günstiger verkaufen müssen als Alkohol.
Trotz Engagement versandeten die Versuche, schweizweit ein Frauenstimmrecht einzuführen. Darunter zwei Motionen, die 1918 im Parlament überwiesen wurden, sowie eine Petition 1929 mit mehr als 250'000 Unterschriften. Auch Abstimmungen in den Kantonen scheiterten.
Ein Problem? Mitnichten. Für die Regierung war die Ungleichbehandlung kein Unrecht, wie Andrea Maihofer, Professorin für Geschlechterforschung im Band «50 Jahre Frauenstimmrecht» nachweist, der heute neu erscheint.*
Zwar steht in der Verfassung von 1874: «Stimmberechtigt ist jeder Schweizer.» Für die Regierung und auch das Bundesgericht war jahrzehntelang klar: Frauen zählen nicht dazu, sie sind keine Schweizer im Sinne der Verfassung. Nein. Denn für sie gilt auch Artikel 4 der Verfassung nicht, wonach alle Schweizer vor dem Gesetze gleich seien. Das wirkte sich direkt auf den Alltag aus. So verloren Frauen bis 1952 beispielsweise die Schweizer Staatsbürgerschaft, wenn sie einen Ausländer heirateten.
Der Bundesrat schrieb 1957 in der Botschaft zur Einführung des Frauenstimmrechts, dass es besonders schwierig sei, die Rechtsgleichheit der Frauen zu verwirklichen, weil sie «fast alle Gebiete unserer Rechtsordnung, des öffentlichen und privaten Rechts, und unserer sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse tangiert».
Ein einziges Eingeständnis der tiefgreifenden Ungleichbehandlung der Frauen. Der Bundesrat rechtfertigt diese mit der Erklärung, dass Gleiches gleich, Ungleiches aber ungleich behandelt werden müsse. Bestehen «erhebliche Unterschiede», lasse sich «eine unterschiedliche rechtliche Behandlung begründen». Maihofer formuliert es in anderen Worten: «Die Frauen sind (bislang) keine dem Mann gleichwertigen Menschen, deshalb ist es kein Unrecht, sie nicht als gleichwertige Menschen zu behandeln.»
Und doch rang sich der Bundesrat zur Einführung des Frauenstimmrechts durch, er empfahl die entsprechende Abstimmungsvorlage 1957 anzunehmen. Die Argumentation: Die Emanzipation der Frau sei so weitgehend, dass eine «Angleichung der Frau an den Mann, insbesondere im Sinne ihrer Vermännlichung» stattgefunden habe.
Soweit der Stand in der Schweiz 1957.
Der Sinneswandel der Regierung hing nicht nur mit den gesellschaftlichen Veränderungen zusammen, die in der Nachkriegszeit rasant an Fahrt aufnahmen - der Staat übernahm beispielsweise zunehmend Aufgaben der Fürsorge (Einführung der AHV), Frauen waren berufstätig und liessen sich scheiden.
Gleichzeitig formulierte die internationale Staatengemeinschaft 1948 die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), an deren Konzeption sich auch die Schweiz beteiligte. 1953 trat sie in Kraft, aber ohne Schweizer Teilnahme. Die Frauen sollten 1959 das Stimm- und Wahlrecht auch deshalb erhalten, weil die Schweiz der EMRK beitreten wollte. Die Gleichheit vor dem Recht gehört schliesslich zu den Pfeilern der EMRK.
Doch bekanntlich dauerte es nochmals 14 Jahre länger, bis den Frauen auf nationaler Ebene dieselben Rechte wie den Männern eingeräumt wurden. Am 1. Februar 1959 lehnten 654'939 Schweizer Männer (66,9 Prozent) die Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen auf nationaler Ebene ab.
Immerhin in der Waadt und später auch in Neuenburg und Genf erlaubten die Männer den Frauen bald, ihre Rechte auf kantonaler und Gemeindeebene auszuüben. Die Restschweiz konnte beobachten, dass das gut funktionierte. Sukzessive führten auch Deutschschweizer Kantone das Frauenstimmrecht ein.
Gleichzeitig gewann die Stimme der Frauen an Gewicht, sie organisierten sich in Verbänden. Verstärkt wurde die Forderung nach Gleichberechtigung auch durch die Jugendunruhen der sechziger Jahre. Nach dem «Marsch auf Bern», den damit verbundenen Demonstrationen und Forderungen, bewegten sich endlich auch die Männer im National- und Ständerat.
Am 2. Februar 1971 befürworteten schliesslich 621'109 Männer (65,7 Prozent) die Einführung des Stimm- und Wahlrechts auf nationaler Ebene. Doch damit war der Kampf nicht gewonnen. Die Kantone der Ost- und Zentralschweiz lehnten die Verfassungsänderung zunächst ab: Die Männer von Appenzell Innerrhoden und Ausserrhoden, Uri, St. Gallen, Thurgau, Glarus, Schwyz und Obwalden sagten mehrheitlich Nein.
Während der neue Verfassungsartikel den Frauen Rechte auf nationaler Ebene gewährte, konnten die Kantone über die Einführung des Frauenstimmrechts auf kantonaler und Gemeindeebene weiterhin selber entscheiden. Immerhin: Bis auf die beiden Appenzell hatten bis 1972 alle Kantone die politische Gleichberechtigung umgesetzt.
Es wäre nun allzu einfach, dem konservativen Welt- und Rollenbild der Appenzeller das Versäumnis zuzuschreiben, den Frauen die gleichen Rechte zu ermöglichen.
Zwar erklärten die Gegner des Frauenstimmrechts (darunter auch viele Frauen), dass Politik ein dreckiges Geschäft sei und nicht dem Naturell der Frauen entspreche. Ausserdem würden sowieso die Frauen Zuhause bestimmen und könnten so Einfluss auf die Männer und deren Entscheidung nehmen. Und die Begründung, dass nur «Auswärtige» oder Ausländerinnen solche Rechte einfordern würden, ist aus vorhergehenden nationalen Abstimmungen bekannt.
Die Idealisierung der Landsgemeinde als Urform der Demokratie und als Fundament für sozialen Frieden blockierte lange Zeit die Diskussion und verhinderte Fortschritte. Clara Nef, Präsidentin der Ausserrhoder Frauenzentrale, verteidigte 1954 den mangelnden Einsatz für das Frauenstimmrecht an der Landsgemeinde.
Diese «urdemokratische Form» berge Werte, die hoch einzuschätzen seien: darunter das Fehlen schroffer Gegensätze sowie extremer Parteien. Die Landsgemeinde führe zu einer starken Volksverbundenheit. Nef erklärte die Landsgemeinde zum «stärksten Bollwerk» für die Gleichberechtigung.
Dabei war die Argumentation allzu oft ziemlich profan: Der Landsgemeindeplatz sei zu klein, die Frauen hätten ja keine Säbel zum Abstimmen. Und überhaupt: Wer kocht denn und wer hütet die Kinder, wenn alle Erwachsenen ihren Bürgerpflichten nachkommen müssen?
Einzelne Frauen kämpften trotzdem dagegen diese Vorurteile an und organisierten beispielsweise einen Kinderhütedienst für die Glarner Frauen, die 1972 erstmals an einer Landsgemeinde teilnehmen durften. Mit Bussen fuhren Appenzellerinnen an 26 Orte im Kanton Glarus, um das Argument zu entkräften, die Einführung des Frauenstimmrechts halte die Bürger von der Ausübung ihrer Rechte ab.
Trotz solcher Aktionen war laut Historikerin Vreni Mock das Frauenstimmrecht in Appenzell bis Anfang achziger Jahre ein Tabu. Erst mit dem Verfassungsartikel zur Gleichberechtigung, der 1981 schweizweit angenommen, von beiden Appenzell aber abgelehnt worden ist, begann auch eine rechtliche Diskussion. Wie ist die Gleichberechtigung mit dieser Diskriminierung vereinbar? In Appenzell Ausserrhoden führte dies letztlich zu einem Umdenken.
Nicht in Innerrhoden. Dort lehnten die Männer an der Landsgemeinde 1990 das Frauenstimmrecht mit erdrückendem Mehr - und einem befreienden Seufzer - zum dritten Mal in Folge ab, nach 1973 und 1982. Die Gleichberechtigung erfolgte denn auch nicht aus Überzeugung, sondern aus Zwang.
1989 reichte die Innerrhoderin Theresia Rohner eine staatliche Beschwerde beim Bundesgericht ein, weil ihr die kantonale Behörde die Teilnahme an der Landsgemeinde verweigerte. Als dann die Landsgemeinde im April 1990 den Frauen abermals die Rechte zur Teilnahme absprach, urteilte das Bundesgericht am 27. November 1990, dass den Innerrhoderinnen das Stimmrecht auf Gemeinde- und Kantonsebene mit sofortiger Wirkung gewährt werden müsse.
Und die Landsgemeinde? Sie ist nicht verschwunden, sie findet in Appenzell weiterhin jedes Jahr statt.
* Am 26. November erscheint das Buch «50 Jahre Frauenstimmrecht. 25 Frauen über Demokratie, Macht und Gleichberechtigung» im Limmat Verlag, herausgegeben von Isabel Rohner und Irène Schäppi.