Wir wissen zu wenig über unsere Konstanzer Nachbarn

«Im vergangenen Jahrhundert wurden Mauern und Zäune gebaut. In diesem Jahrhundert sollte man sie abreissen.» Leitartikel zum Abschluss der Sonderwoche «Konstanz», von David Angst, Chefredaktor der Thurgauer Zeitung.

David Angst
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David Angst, Chefredaktor der Thurgauer Zeitung

David Angst, Chefredaktor der Thurgauer Zeitung

Auf dem Aussichtshügel Hochwart auf der Insel Reichenau hat man eine gute Sicht auf die Stadt Konstanz und das Schweizer Untersee-Ufer. Eines Tages fährt ein Reisecar heran und eine Gruppe aus Ostdeutschland steigt auf den Hügel. Der Reiseführer, ein Einheimischer, sagt mit bedeutungsvoller Stimme: «Sie stehen hier am alemannischen Bosporus. Die Dörfer dort drüben gehören zur Schweiz. Stellen Sie sich vor: Dort kann jede Gemeinde selber bestimmen, was sie mit ihren Steuereinnahmen macht!» Das Ereignis ist verbürgt, denn der Autor hat es selbst gehört.

Der Begriff «Alemannischer Bosporus» hat, wenn man die Landkarte anschaut, durchaus seine Berechtigung. Der Mann wusste zwar einiges über die Schweizer Politik, aber er wusste nicht alles, oder er liess der Einfachheit halber einiges weg, zum Beispiel die direkte Bundessteuer. Die Episode aber zeigt: Unsere Nachbarn wissen einiges über uns. Aber sie wissen nicht genug. Das gilt freilich auch umgekehrt. Die Landesgrenze, die man kaum mehr sehen kann, ist in den Köpfen immer noch stark verankert.

Eine der grössten Städte unmittelbar an einer EU-Aussengrenze

Mit ihrer Sonderwoche in Konstanz wollten die Journalistinnen und Journalisten der Thurgauer Zeitung und des Tagblatts dagegen etwas unternehmen. Eine Woche lang schrieben wir intensiv über unser Verhältnis zu den Konstanzern, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Manchmal sind die Gemeinsamkeiten überraschender als die Unterschiede – und das zeigt, dass wir uns mehr mit einander befassen sollten.

Der Konstanzer Oberbürgermeister sagte in der Ausgabe vom Montag: «Für Bern und Berlin sind wir beide weit weg vom politischen Zentrum. Das verbindet uns als Partner, wenn es darum geht, die Anliegen der Grenzregion zur Sprache zu bringen.» Eine Aussage, die wir auch dann beherzigen sollten, wenn es darum geht, unser Verhältnis zur EU neu zu definieren. Die Bodensee-Grossstadt Konstanz-Kreuzlingen (rund 110 000Einwohner) gehört zu den grössten Städten, die unmittelbar an der EU-Aussengrenze liegen.

In Nordirland schaut man mit Sorge auf die Zeit nach dem Brexit. Die Sorge ist verständlich. Grossbritannien hat sich mit seinem Europakurs in eine schwierige Lage manövriert. Kreuzlingen und Konstanz sind ein gutes Beispiel dafür, dass es möglich ist, an einer EU-Aussengrenze unkompliziert zusammen zu leben. Aber es braucht von beiden Seiten Kompromissbereitschaft, harte Arbeit und einen ständigen Dialog. Die eidgenössische Volksabstimmung vom letzten Sonntag hat gezeigt, dass die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung bereit ist, Kompromisse einzugehen. Es ging dabei nämlich weniger um Waffenbesitz als um Schengen. Und Schengen bedeutet unter anderem offene Grenzen.

Offene Grenzen haben ihre Vor- und Nachteile

Im vergangenen Jahrhundert wurden Mauern und Zäune gebaut. In diesem Jahrhundert sollte man sie abreissen. Deutschland verhängte in der Zwischenkriegszeit den Milchkrieg, eine trumpsche Massnahme zum Schutz der deutschen Landwirtschaft. Zu den Verlierern gehörten damals auch die Thurgauer Bauern. Bis dahin hatten sie ihre Produkte relativ einfach in Konstanz verkaufen können. Im Gegenzug bekamen Konstanzer Handwerker in der Schweiz Aufträge. Der Zaun, den Hitler 1939 bauen liess, fiel erst im Jahr 2006.

Offene Grenzen haben ihre Vor- und Nachteile. Es gibt manchmal gute Gründe, gewisse Branchen zu schützen. Grundsätzlich muss aber unser Bestreben sein, Schranken abzubauen. Die politischen Unterschiede müssen deshalb nicht verschwinden. Auch zwischen den Schweizer ­Kantonen gibt es politische Unterschiede. Trotzdem käme es niemandem in den Sinn zwischen St.Gallen und ­Teufen Grenzkontrollen zu machen.

Hoffentlich finden sich auch in Zukunft tragbare Lösungen mit der EU, um den Austausch von Dienstleistungen und Waren zu erleichtern, ohne dabei unsere Eigenständigkeit aufzugeben. Die Politiker in Kreuzlingen und Konstanz sollten sich trotz ihrer peripheren Lage dafür einsetzen.