Wie bunt ist der Thurgau? Auf der Suche nach der Artenvielfalt im grünen Kanton

Mit einer Initiative wollen Verbände und Parteien die biologische Vielfalt im Thurgau zum Blühen bringen. Doch: Wie ist es aktuell um die Biodiversität im grünen Kanton bestellt? Ist er auch bunt? Ein Spaziergang durch Statistiken und Erhebungen.

Sebastian Keller
Drucken
Eine Blumenwiese in Boltshausen, Ottoberg. (Bild: Reto Martin)

Eine Blumenwiese in Boltshausen, Ottoberg. (Bild: Reto Martin)

Dies ist ein Artikel der «Ostschweiz am Sonntag». Die ganze Ausgabe lesen Sie hier.

Der Spaziergang startet an einer Tafel der Definition. Erläutert wird darauf der Begriff Biodiversität. Dieser bedeutet einerseits Vielfalt der Arten, also Bäume, Gräser, Reptilien oder Vögel. Andererseits auch die Vielfalt der Ökosysteme. In der Schweiz wird zwischen 235 Lebensraum-Typen unterschieden: Weiden, Flussauen, Hochstamm-Obstgärten sind nur drei Lebensraum-Typen. Biodiversität ist aber auch innerhalb einer Art von Bedeutung – zum Beispiel verschiedene Birnenbaumsorten. Zentrale Schlagworte in diesem Bereich sind genetische Vielfalt und Robustheit.

Mit dem definitorischen Wissen im Rucksack geht es auf, den Lebensraum Thurgau zu erkunden. Bei schönem Wetter bietet sich der Gang über den Seerücken an, der Löwenzahn erinnert farblich an die Demonstrationen in Frankreich. Im Wald zwitschern Vögel, ein Eichhörnchen kriecht den Baum hoch. So reizvoll ein Spaziergang übers Land ist, die Antwort über den Zustand der Biodiversität findet sich nur bedingt. Trockener, aber erkenntnisreicher ist der Blick in die Literatur, in Statistiken und ins Zeitungsarchiv.

Artenvielfalt ist schwer zu erfassen

Schnell wird klar: Die Artenvielfalt lässt sich nicht so einfach erfassen wie die Anzahl Autos auf einer Strasse oder die Einwohner einer Gemeinde. Der Biber reicht kein Baugesuch ein, wenn er mit dem Bau eines Damms beginnt. Der Biber ist – blendet man potenzielle Konflikte aus – die Lichtgestalt der Biodiversität im Thurgau.

Nachdem der Nager um 1800 als vollständig ausgerottet galt, gelang 1968 die Wiederansiedlung. Am Nussbaumersee wurden sechs Biber aus Norwegen ausgewildert. Heute wird die Population auf rund 500 Tiere geschätzt. Mehr dürften es kaum werden, da zwischen Bodensee und Hörnli kaum mehr Plätze für neue Reviere zu finden sind. Der Biber selber ist ein Förderer der Artenvielfalt. Deutsche Forscher konnten nachweisen, dass in Biberrevieren die Population von Amphibien steigt. Das dürfte im Thurgau nicht anders sein.

Das will die Volksinitiative

Am 4. Mai beginnen neun Verbände und Parteien im Thurgau mit dem Sammeln von Unterschriften für die Volksinitiative «Biodiversität Thurgau». Das Volksbegehren verlangt die Erarbeitung einer kantonalen Biodiversitätsstrategie - wie sie etwa der Kanton St. Gallen bereits kennt. Zudem fordert die Initiative, zusätzlich drei bis fünf Millionen Franken zur Förderung der Biodiversität bereitzustellen. Damit sollen auch die personellen Ressourcen verstärkt werden. Mit den Finanzmitteln sollen vor allem Massnahmen des nationalen Aktionsplans umgesetzt werden - und dadurch Geldmittel aus Bern ausgelöst werden. Zudem soll der Begriff Biodiversität im Gesetz verankert werden. Für das Zustandekommen einer Volksinitiative im Thurgau sind 4000 Unterschriften notwendig. Die Sammelfrist beträgt sechs Monate. (seb.)

Auch ein anderes Säugetier lässt sich – nach 200 Jahren Absenz im Thurgau – wieder nachweisen: Der Wolf. 2017 tötete ein Tier Schafe im Raum Hohentannen und der Region Uesslingen. Ende November 2018 schlug ein anderer Wolf am Ottenberg zu. Acht Schafe gingen auf sein Konto. Das Grossraubtier dürfte aber eher gelegentlicher Gast sein. Obschon sich laut Studie der Universität Zürich im südlichen Thurgau ideale Bedingungen für den Wolf finden, ist es eher unwahrscheinlich, dass er sich im Thurgau ansiedelt.

Freiwillige zählen für den Atlas der Säugetiere

Bei den Säugetieren setzt auch die Wissenschaft auf den Spaziergang – auf den Spaziergang der Vielen. In den vergangenen zwei Jahren fand die sogenannte Volkszählung der Säugetiere statt. Im Rahmen dieses Projektes waren Freiwillige aufgerufen, dem Naturmuseum Beobachtungen von Igeln, Spitzmäusen und Co. zu melden. Vereinzelt wurden auch Kadaver ins Museum geliefert oder Fotos von Trittsiegeln oder Kot eingereicht. Insgesamt betrafen 1100 Meldungen den Thurgau. Sie fliessen in den nationalen Verbreitungsatlas ein. Damit wird es möglich, Vergleiche mit jenem aus dem Jahr 1995 vorzunehmen. Die Arbeiten dafür laufen.

Aktuell lassen sich daher einzig die Spitzenreiter vermelden: 250 Eichhörnchen, 200 Rotfüchse und je 150 Igel und Rehe wurden gezählt. Seltene Wildarten zählt auch der Geschäftsbericht des Kantons auf: So wurden im Jahr 2018 41 Edelmarder, 42 Iltis, vier Waschbären und drei Fasane festgestellt.

Eine positive Entwicklung ist bei den wertvollen Naturräumen zu vernehmen. Davon erzählt das Indikatorensystem MoniThur. Als wertvolle Naturräume zählen Lebensräumen, in denen sich die Artenvielfalt entfalten kann. Der Anteil an der Kantonsfläche hat zwischen 2003 und 2015 von 6,7 auf 9 Prozent zugenommen. Der grösste Teil –6300 Hektare oder etwa 9000 Fussballfelder –davon sind Biodiversitätsförderflächen. Landwirte erhalten Beiträge für Wiesen, die sie nicht düngen und erst spät im Jahr mähen. Gründe für den Wachstum der Flächen werden der veränderten Agrarpolitik zugeschrieben.

Eine Netz von 72 Untersuchungsflächen

Den besten Überblick über die Artenvielfalt im Thurgau bietet das Biodiversitätsmonitoring Thurgau. Dieses Programm untersucht seit 2009 die Artenvielfalt von Pflanzen, Tagfaltern und Vögeln. Dies auf 72 Flächen im Thurgau, die je einen Quadratkilometer gross sind. Die drei Artengruppen eigenen sich gut als Indikator für den Zustand der Landschaft, heisst es in einem Buch der Thurgauischen Naturforschenden Gesellschaft (TNG).

Die Untersuchung förderte zutage, dass der Trend etwa bei den Brutvögeln und den Tagfaltern leicht nach oben zeigt. Im ersten Untersuchungszeitraum von 2009 bis 2012 wurden 36 Brutvogelarten gezählt, im zweiten bis 2017 deren 39. Gehäuft beobachtet wurde die Goldammer, eingebrochen ist die Zahl der Grünfinken. Bei den Tagfaltern nahm die mittlere Anzahl pro Stichprobenfläche von 21 auf 23 zu. Der Schachbrettfalter wurde häufiger beobachtet. Weniger erbaulich ist die Situation bei den Pflanzen. Deren Zahl nahm von 254 auf 253 leicht ab.

Die grössten Verluste passierten im 20. Jahrhundert

Auch wenn der Artenschwund – darauf deuten die Untersuchungen hin – in den vergangenen Jahren gebremst werden konnte, verfallen die Autoren dennoch nicht in Euphorie. Sie reden eher davon, dass die Talsohle durchschritten sein dürfte. Denn: «Die grössten Biodiversitätsverluste liegen womöglich hinter uns», heisst es im Fazit. Die Promotoren der Volksinitiative verorten ihn in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Oder, um es in den Worten eines Feldmitarbeiters zu sagen, der im Buch der Thurgauischen Naturforschenden Gesellschaft zu Wort kommt: «Vieles ging verloren, das wir als Kind noch gekannt haben.»