Startseite
Ostschweiz
Frauenfeld & Hinterthurgau
Zehn Personen verlangten seit «Testfall Münsterlingen» Einsicht in Psychiater Kuhns Akten. Weitere dürften folgen.
Lange verdrängte Erinnerungen sind wieder zurück. Die historische Aufarbeitung der Medikamentenversuche von Psychiater Roland Kuhn in Münsterlingen ruft bei vielen dunkle Erinnerungen hervor. Das erlebt derzeit ein Thurgauer Pensionär (Name der Redaktion bekannt), dessen Vater drei Jahre lang Kuhns Patient in der psychiatrischen Klinik Münsterlingen war – geschlossene Abteilung.
Die Behandlung der diagnostizierten Schizophrenie endete schliesslich mit dem Tod auf der Station: Lungen-Embolie. «Damals war ich jung, vertraute den Ärzten, hinterfragte nicht», sagt der Pensionär. Heute ist es anders. Nach der umfangreichen Forschung um die Medikamententests in Münsterlingen würde er gerne mehr wissen, was damals wirklich alles geschah. «Wohin kann ich mich wenden?», fragt er.
Am 23. September stellten Wissenschafter der Universität Zürich im Thurgauer Staatsarchiv das Buch «Testfall Münsterlingen» vor. Es sind die Ergebnisse einer mehr als drei Jahren langen Forschung.
«Seit die Ergebnisse der Untersuchung vor den Medien vorgestellt wurden, sind bei uns zehn Anfragen für Akteneinsicht zum Fall Münsterlingen eingegangen.»
Das sagt der Thurgauer Staatsarchivar André Salathé. Darunter seien drei Direktbetroffene. Als ehemalige Patienten müssen sie sich ausweisen können und erhalten so relativ einfach Einblick in ihr eigenes Patientendossier.
«Bei Angehörigen ist es schwieriger». sagt Salathé. Sie müssen schriftlich darlegen, was sie aus den Archivakten erfahren wollen – «und vor allem warum; es braucht eine Begründung». Solche Gesuche gehen vom Staatsarchiv zum kantonalen Departement für Finanzen und Soziales, der eigentlichen Entscheidungsinstanz. Eine solche Anfrage muss aber auch noch über den Tisch des aktuellen Klinikdirektors, um dessen Befreiung vom ärztlichen Berufsgeheimnis es letztlich geht.
«Wir haben bisher nach dem Grundsatz ‹möglichst viel möglich machen› gehandelt», sagt Salathé. Dennoch gelten klare Regeln. Wer grünes Licht bekommt, Akten einzusehen, muss möglicherweise am Ende der Nachforschungen seine Notizen offenlegen. Kopien und Fotos sind nicht erlaubt. Salathé sagt:
«Wir begleiten die Leute aber auch, stehen ihnen zur Verfügung.»
Das macht das Thurgauer Staatsarchiv auch zu einer Beratungsstelle rund um die Medikamententests in Münsterlingen. «In der Regel führen wir zu Beginn und zum Schluss ein Gespräch mit den Personen, die Akten einsehen.»
Von 1940 bis 1980 hat Psychiater Roland Kuhn für die Pharmaindustrie nicht zugelassene Medikamente getestet. An rund 3000 Patienten hat der Arzt in seiner langen Laufbahn Medikamente ausprobiert. Den damals aufgekommenen Standards genügte sein Vorgehen bald nicht mehr. Das halten die Wissenschafter fest. Kuhn vertraute bis zum Schluss vor allem seinen eigenen Beobachtungen.
Dabei kam es auch zu Todesfällen.
«Insgesamt sind wir bei der Quellenarbeit auf 36 Personen gestossen, die während oder kurz nach der Verabreichung von Prüfsubstanzen verstarben»
Das schreiben die Forscher in «Testfall Münsterlingen». Einerseits liesse sich die Dunkelziffer weiterer Todesfälle nur schwer einzuschätzen, anderseits sei unklar, inwiefern in weiteren Fällen Prüfsubstanzen im Spiel waren. Deshalb bleiben auch nach dieser wissenschaftlichen Aufarbeitung vor allem Fragen zu ungeklärten Todesfällen offen.
In diese Kerbe schlagen nun die beiden Kantonsräte Doris Günter (EVP, Winden) und Roland A. Huber (BDP, Frauenfeld). In einem Vorstoss an die Regierung werfen sie die Frage auf, ob der Kanton gedenke, weitere Untersuchungen in Auftrag zu geben.
«Wir bitten den Regierungsrat, nicht auf halbem Weg stehen zu bleiben.»
Die beiden Politiker möchten auch wissen, ob es nebst dem Angebot des Staatsarchivs nicht auch eine Anlaufstelle mit mentaler Betreuung brauche. «Es gibt viele Familienangehörige von ehemaligen Patienten, für die es sehr happig ist», sagt Roland A. Huber.
Er ist persönlich betroffen. Sein Vater verstarb in den 60er Jahren in Münsterlingen, wo er nach einem Schlaganfall behandelt wurde. Dass an seinem Vater nicht zugelassene Medikamente getestet wurden, wisse er aus Briefen, welche dieser aus der Klinik an seine Frau sandte. «Bisher hat mich der administrative Aufwand abgeschreckt, im Archiv zu forschen», sagt Huber. Er schliesst jedoch nicht aus, dies in den kommenden Monaten noch nachzuholen.