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Die Seepolizei ermittelt bei Tauchunfällen am Wrack der Jura auch auf dem Seegrund. Die Überlebenschancen bei Ereignissen unter Wasser sind jedoch gering.
Fast spiegelglatt liegt der See an diesem Tag vor Kreuzlingen. Langsam dreht Pascal Müller das Steuerrad des Polizeiboots und blickt dabei mit Marcel Kuhn auf den Bildschirm des Echolots. Zunächst ist nur eine Linie zu sehen – doch dann taucht sie auf: die Jura.
Vor 154 Jahren fand der Schaufelraddampfer nach einer Kollision mit einem anderen Schiff in rund 40 Metern Tiefe und etwa 900 Meter vor Bottighofen seine letzte Ruhestätte.
Neben dem Polizeiboot dümpelt eine rote Boje auf dem Wasser. Daran ist ein Seil angebracht, das sich nach ein, zwei Metern in der Dunkelheit des Sees verliert. Der Einstieg zum Freiwasserabstieg für Taucher. Wer zur Jura will, muss diesen Weg wagen. An der Stelle befindet sich nicht permanent eine Boje, sondern es wird jedes Mal wieder eine mit einem Gewicht beschwerte Leine ins Wasser gelassen, an der die Taucher sich in die Tiefe begeben.
In den vergangenen Jahren hat sich das Schiffswrack zu einem beliebten Tauchziel entwickelt. Und das, obwohl oder gerade weil die Jura seit vielen Jahren unter Denkmalschutz steht. Marcel Kuhn, Dienstchef der Seepolizei des Kantons Thurgau, erläutert:
«Das Tauchen ist nicht verboten, aber reguliert.»
Heisst: Es darf nicht ins Wrack getaucht werden und es ist untersagt, etwas mitzunehmen oder ins Wrack zu ritzen.
Was macht sie aus, die Faszination Jura? Für die Seepolizisten ist es ein «Eintauchen in eine andere Zeitepoche», sagt Kuhn. «Man muss sich das ein bisschen vorstellen wie bei dem Film Titanic», erklärt Pascal Müller. Zunächst sehe man nichts als schlammigen Untergrund und dann tauche plötzlich die Silhouette des versunkenen Schaufelraddampfers auf.
«Mehrere hundert Taucher kommen im Jahr an die Jura»
schätzt Marcel Kuhn. Unfälle – teils tödliche – ereigneten sich hier bereits einige. Strömungen oder sonstige naturgegebene Gefahren fänden sich hier nicht, sagt er. Herausforderungen gebe es dennoch einige, unter anderem der 40 Meter-Freiwasserabstieg am Seil. «Die Kontrolle beim Ab- und Auftauchen ist wichtig.»
«Junge Kollegen werden langsam ans Tauchen in der Tiefe herangeführt», sagt Kuhn. Erst nach rund zwei Jahren gehen sie mit ihnen hinab zur Jura – einem der Tauchübungsziele der Seepolizei. «Bei guter Ausbildung ist das kein Problem», sagt der 42-Jährige, der seit 25 Jahren taucht und «das Hobby zum Beruf gemacht hat».
Brigitte Stigler, stellvertretende Leiterin Medizin bei Medbase Winterthur, erläutert, welche Auswirkungen ein Tauchgang auf den Körper hat: «Bei zunehmender Tiefe kommt es zu einem Druckanstieg von einem Bar je zehn Meter Tauchtiefe. Je tiefer man taucht, umso besser lösen sich die Atemgase (Luft) in Flüssigkeiten (vor allem im Blut) und im Gewebe.» Dies könne problematisch werden, da dabei der Gaspartialdruck steige, was dann zu unmittelbarer Bewusstlosigkeit führen könne.
Für Sporttaucher sei es zudem wichtig, das «Nullzeitenprinzip» einzuhalten. Dabei werde vorausgesetzt, dass der Taucher immer im Rahmen eines sicheren Notaufstiegs ohne Dekompressionspausen sicher, gefahrlos und gesundheitlich unbedenklich auftauchen könne. Die Medizinerin sagt:
«Um das Nullzeitenprinzip in einer Tiefe von 40 Metern einhalten zu können, darf der Taucher bei Verwendung eines normalen Luftgemisches nicht länger als neun Minuten in dieser Tiefe verweilen.»
Auch die richtige Ausrüstung spielt eine wichtige Rolle. «Es ist nicht vergleichbar mit dem Meer», sagt Pascal Müller. Das fängt bei der Kleidung an. In dieser Tiefe hat das Wasser sowohl im Sommer als auch im Winter rund vier Grad. Ein warmer Tauchanzug ist hier ein Muss. Diese Temperaturen stellen nicht nur für Menschen eine Herausforderung dar, sondern auch für die Technik. «Die Automaten müssen kaltwassertauglich sein», sagt Kuhn. Denn «nicht kaltwassergeeignete Atemregler können bei tiefen Temperaturen vereisen, was in der Regel zu einem sogenannten Abblasen führt», sagt Medizinerin Stigler. Dabei handle es sich um ein permanentes Ausströmen der Atemluft durch den Atemregler.
Grundsätzlich taucht man immer mindestens zu zweit. In Notsituationen stehen sich Taucher unter strikter Beachtung des Eigenschutzes nach besten Kräften und Möglichkeiten bei. Im Falle, dass die Notsituation unter Wasser nicht behoben werden kann, tauchen die Partner regelkonform im Rahmen des stets zu trainierenden Notaufstiegs ruhig und kontrolliert auf. Bereits im Vorfeld jedes Tauchgangs ist im Rahmen der Planung der Ablauf eines medizinischen Notfalls sowie die nächste geeignete medizinische Einrichtung und die nächstgelegene, verfügbare Druckkammer zu ermitteln.
Kommt es zum Unfall, rückt die Seepolizei aus. «Ist der Taucher an der Oberfläche, dann hat er meist ein medizinisches Problem», sagt Kuhn.
«Unter der Oberfläche sind die Überlebenschancen dagegen nicht sehr gross.»
Daher handelt es sich meist um Bergungen, die die Polizisten durchführen.
Wie kann in der Tiefe ein lebloser Körper gefunden werden? Ein erster Hinweis könne die Aussage des Tauchpartners sein. «Der Bereich des Schiffs wird systematisch abgesucht», sagt Kuhn zum Vorgehen. Am Fundort komme es dann zu einer regelrechten «Tatbestandsaufnahme»: Es werden Bilder gemacht und das Material untersucht. «Auch eine Spurensicherung machen wir», sagt der Dienstchef, etwa von Kratzspuren oder aufgewühltem Grund. «Wie und bei welcher Aktivität diese entstanden sind, können wir nicht beurteilen.»
Auch Befragungen von Zeugen – falls es welche gibt – gehören zur polizeilichen Untersuchung. Kuhn sagt:
«Es sind meist medizinische Ursachen oder menschliches Versagen, die zu einem Unfall führen. Technische Probleme sind dabei der geringste Anteil.»