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Eine weitere Aufarbeitung der Medikamentenversuche in der Psychiatrie sollte gesamtschweizerisch erfolgen, meint der Thurgauer Regierungsrat.
Der Thurgauer Regierungsrat will keine erneute medizinhistorische Untersuchung der Medikamentenversuche in Auftrag geben, die sich nur auf den Thurgau bezieht. In der Beantwortung einer Interpellation von Marina Bruggmann (SP, Salmsach), Edith Wohlfender (SP, Kreuzlingen) und Peter Dransfeld (GP, Ermatingen) lehnt er es ab, nur zwei Jahre nach Abschluss der ersten Untersuchung eine weitere anzustossen.
Mit «Testfall Münsterlingen» habe der Thurgau 2019 «als erster Kanton pionierhaft das Kapitel der Medikamentenversuche aufgearbeitet». Andere Kantone wie Zürich und Basel hätten ebenfalls mit der Aufarbeitung der Medikamententests im 20. Jahrhundert begonnen. Graubünden habe es mit einer in diesem Jahr erschienenen Publikation getan.
Eine historische Aufarbeitung hinterlasse immer offene Aspekte, so umfassend sie auch sei. Alle denkbaren Aspekte der Münsterlinger Versuche aufzuarbeiten, «wäre ein nie endendes Unterfangen».
Der nächste logische Schritt bestehe vielmehr in einer schweizweiten Aufarbeitung, so wie das auch die Urheber der Studie «Testfall Münsterlingen» empfehlen würden. Bei einer gesamtschweizerischen Forschung wäre laut Regierungsrat eine Mitfinanzierung durch den Kanton Thurgau zu prüfen.
Die Interpellanten regten an, die Auswirkungen der Medikamentenversuche auf die Betroffenen zu untersuchen. Davon hält der Regierungsrat auch nichts, da eine solche Studie noch anspruchsvoller als der «Testfall Münsterlingen» wäre. Mangels schriftlicher Aufzeichnungen müsste sie stark auf der mündlichen Überlieferung beruhen.
Bezüglich einer Entschädigungspflicht für noch lebende Opfer der Medikamentenversuche gibt es laut Regierungsrat nur eine gesetzliche Grundlage für gewisse Konstellationen. Er fordere weiterhin eine schweizweite Entschädigungspflicht:
«Und zwar unter Inpflichtnahme der pharmazeutischen Industrie, die von den Medikamentenversuchen in erheblichem Masse profitiert hat.»
Für die Entschädigung von Opfern von Medikamentenversuchen, die nicht gleichzeitig fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen unterworfen waren, brauche es eine gesetzliche Grundlage auf Bundesebene.
Der Regierungsrat hat nach eigenen Angaben bereits Gelder aus zwei Fonds dafür reserviert. Sie würden ausbezahlt, sobald eine schweizweite Entschädigungsregelung vorliege.
Was die symbolische Ebene angeht, so weist der Regierungsrat auf das auf dem Spitalfriedhof Münsterlingen geplante Zeichen der Erinnerung hin. Der Thurgau habe auch hier als bisher einziger Kanton dieses Zeichen nicht auf die Bereiche Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen beschränkt, sondern auch auf die Medikamententests ausgeweitet. Das Staatsarchiv als Anlaufstelle stelle fest, dass das Zeichen der Erinnerung von Betroffenen «als symbolische Wiedergutmachung anerkannt und geschätzt wird».
Der Thurgau habe tatsächlich Pionierarbeit geleistet, kommentiert die Interpellantin Marina Bruggmann. Sie finde es aber nicht richtig, wenn er sich nun darauf ausruhe und schaue, was gesamtschweizerisch gemacht werde. Ein Problem seien auch die noch nicht erfolgten Auszahlungen:
«Da vergeht ganz viel Zeit, welche diese Personen nicht mehr haben.»
Ich hoffe ja nicht dass wirklich so lange gewartet wird bis eine finanzielle Entschädigung schweizweit entstanden ist, denn bis dahin kann es nochmals Jahre dauern und einige Betroffenen werden eine Entschädigung nicht mehr erleben. Niemand hat bis heute den Opfer von den Medikamententests von Kuhn und der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen geholfen. Die meisten Betroffenen fanden in der Arbeitswelt keinen Platz, weil sie bis heute immer wieder Rückschläge haben, wegen ihren körperlichen und seelischen Schmerzen die man ihnen mit diesen Medikamententests damals zugefügt hat. Einige von den Betroffenen müssen bis heute jeden Fünfer zweimal umdrehen und merken dann erst, dass sie sich überhaupt nichts leisten können. Viele von ihnen schliessen sich zu Hause ein, weil sie das Gefühl haben sie gehören nicht mehr in die Gesellschaft. Aber auch weil sie sich dafür schämen was man ihnen damals angetan hat und manche Betroffenen glauben heute noch, dass Kuhn an ihnen Medikamente getestet hat sei ihre eigene Schuld. Walter Emmisberger