Interview
Trotz Medikamententests: Ehemaliger Thurgauer Kantonsarzt verteidigt Münsterlinger Klinikdirektor

Alt Kantonsarzt Alfred Muggli hält die mediale Berichterstattung über die Münsterlinger Medikamententests für reisserisch. Im Interview sagt er, Kuhn hätte für seine Entdeckung «den Nobelpreis verdient».

Thomas Wunderlin
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Alfred Muggli sagt, er hatte sich den Autoren von «Testfall Münsterlingen» vergeblich als Informant angeboten.

Alfred Muggli sagt, er hatte sich den Autoren von «Testfall Münsterlingen» vergeblich als Informant angeboten.

(Bild: Reto Martin)

Seit die Medikamentenversuche in Münsterlingen 2012 bis 2014 zum Medienskandal wurden, engagiert sich Alfred Muggli für die Ehrenrettung des früheren Klinikdirektors Roland Kuhn. Im September 2019 veröffentlichte eine Historikerkommission unter Leitung von Marietta Meier «Testfall Münsterlingen», den Bericht über Kuhns Versuche.

Muggli hat sich damit unlängst in der «Schweizerischen Ärztezeitung» auseinandergesetzt. Sein Artikel hat neun Co-Autoren, alles Ärzte, die mit Kuhn zu dessen Lebzeiten (1912-2005) zu tun hatten. Sie kritisieren insbesondere die Medienberichte über das Werk als einseitig. So seien die 36 Todesfälle während Kuhns Versuchen «ohne Beweise als medikamentöse Folgen» dargestellt worden.

Roland Kuhn (1912-2005).

Roland Kuhn (1912-2005).

(Bild: Thurgauer Staatsarchiv)

In «Testfall Münsterlingen» wird auch der 1987 geplatzte Skandal um den Direktor des Alters- und Pflegeheim St.Katharinental, Hans Schenker, erwähnt (Ausgabe vom Samstag). Muggli war in dieser Zeit Präsident der Thurgauer Ärztegesellschaft. Der gebürtige Sirnacher mit Jahrgang 1940 führte in Steckborn ab 1972 eine Hausarztpraxis. Von 1997 bis 2005 amtierte er als Kantonsarzt. Bekannt wurde er auch als Präsident der Stiftung Turmhof Steckborn.

Gibt es aus Ihrer Sicht nichts auszusetzen, wenn Patienten ungefragt als Versuchskaninchen dienen?

Alfred Muggli: Man darf nicht mit heutigen Massstäben beurteilen, was zu einer ganz anderen Zeit vorfiel. Früher war es normal. Man fragte Leute nicht, man gab ihnen einfach die Medikamente. Oft waren sie psychisch gestört und nicht ansprechbar. Viele hätten auch die Medikamente sofort genommen, wenn man gefragt hätte.

Sie setzen sich dafür ein, dass die Verdienste Roland Kuhns nicht vergessen werden. Dessen Medikamentenversuche in Münsterlingen gelten heute als fragwürdig.

Nach dem Krieg standen der Psychiatrie keine Medikamente zur Verfügung, mit denen man aggressiven Patienten mit Tobsuchtsanfällen hätte beruhigen können. Es war eine grauenhafte Zeit. Man setzte Elektroschocks, Insulinkuren und Deckelbäder ein. Lobotomie wurde angewendet: Dabei wird ein Stück des Frontalhirns chirurgisch entfernt. Um die Zustände zu verbessern, war Forschung dringend. In Frankreich wurde Largactil entdeckt, ursprünglich als Antiallergikum. Dann stellte man fest, dass es auch stark beruhigt. Geigy hatte ebenfalls verschiedene Stoffe, darunter Imipramin. Kuhn entdeckte, dass es gegen Depressionen wirkt. Es war das weltweit erste Antidepressivum. Für seine Entdeckung hätte er den Nobelpreis verdient.

Gemäss «Testfall Münsterlingen» gab sich Kuhn distanziert, ohne wahrnehmbare Wertschätzung gegenüber den Patienten.

Man muss sich die Persönlichkeit Kuhns vor Augen halten. Er war der alte Chefarzt, wie man ihn vor 50 Jahren gekannt hat. Er vertrat gegenüber seinen Untergebenen klar die Position des Chefs. Während meiner ganzen Assistentenzeit war das die übliche Haltung der Chefärzte. Man war mit ihnen nicht per Du wie heute. Kuhn pflegte keine Beziehungen zu seinen Patienten. Er kannte sie aber sehr gut.

Kuhn reagierte auf Kritik gekränkt oder verdeckt aggressiv. So gelang es ihm, die Steuerbehörden einzuschüchtern, so dass sie auf Nachfragen verzichteten.

Mich stört es, dass im Buch nur negative Eigenschaften Kuhns hervorgehoben werden. So heisst es, er habe Angst gehabt, seine Verdienste würden zu wenig gewürdigt. Das ist ganz einseitig. Das kann nur jemand schreiben, der ihn nicht gekannt hat. Ich habe mich Frau Meier mehrmals angeboten für ein Interview. Sie lehnte aber ab.

Was hätten Sie ihr gesagt?

Dass Roland Kuhn im Grunde nichts anderes wollte, als den armen Menschen zu helfen. In seiner Forschung wollte er nur das Los der psychisch Kranken verbessern.

War er Ihr Freund?

Man kann nicht sagen, ein Freund. Als Präsident der Thurgauer Ärztegesellschaft hatte ich immer wieder engen Kontakt mit ihm. Ich war wohl einer der wenigen Ärzte, die mit ihm per du waren. Ich weiss nicht wieso. Offenbar schätzte er die Art, wie ich die Ärztegesellschaft geführt und mich für die Ärzte eingesetzt habe.

Haben Sie dabei einen Wein zusammen getrunken?

Ja, ein Glas Twanner. Er betonte, dass der Wein aus seiner Heimat stammte. Er war ja Antialkoholiker. Aber es wäre für ihn nicht möglich gewesen, ohne ein Glas Wein Duzis zu machen.

Sie werfen den Medien vor, die Todesfälle bei den Versuchen hochgespielt zu haben. Umgekehrt bestritt Kuhn stets einen Zusammenhang mit den Tests. Er informierte die Pathologen nicht, wenn ein Verstorbener Prüfsubstanzen erhalten hatte.

Wie das genau lief, weiss ich nicht. Ich gehe davon aus, dass es zutrifft. Kuhn gab die Medikamente zuerst Patienten, denen es besonders schlecht ging und von denen man annehmen musste, dass sie nicht mehr lange zu leben hatten. Trizyklische Antidepressiva wie Imipramin können Herzrhythmusstörungen verursachen. Das wusste man erst im Nachhinein. Ein Zusammenhang mit einzelnen Todesfällen ist nicht auszuschliessen. Das konnte man damals nicht feststellen. Bei Largactil wusste man, dass es Gelbsucht auslösen konnte. Bei den Substanzen, die Kuhn testete, stellte man nie Leberschäden fest. Professor Thomas Hardmeier, der alle Verstorbenen der Psychiatrie autopsiert hat, bedauert, dass Frau Meier die ausführlichen Obduktionsberichte inklusive Krankengeschichten, welche der Kommission zur Verfügung standen, nicht berücksichtigt hat.

Alfred Muggli blättert in «Testfall Münsterlingen»;

Alfred Muggli blättert in «Testfall Münsterlingen»;

(Bild: Reto Martin)

Die Versuche ergaben einen lukrativen Nebenverdienst. Nach Ihrer Ansicht handelt es sich bei der angeblichen Bereicherung um eine freie, eine unbelegte Interpretation.

Gemäss der Historikerkommission verdiente er umgerechnet auf die Preise von 2015 insgesamt acht Millionen Franken aus seiner vierzigjährigen Tätigkeit. Das macht umgerechnet 200'000 Franken pro Jahr. Ein Chefarzt hat heute vielleicht ein Zusatzeinkommen von bis zu 500'000 Franken. Kuhn hatte keinen weiteren Nebenverdienst. Privatpatienten begaben sich in die nahe gelegene Bellevue-Klinik in Kreuzlingen.

Die acht Millionen sind eine vorsichtige Schätzung, ein Mindestwert.

Ich weiss nur, dass er kein armer Mann war, als er gestorben ist. Ein Grossteil seines Vermögens stammte von der Liegenschaft seines Vaters, der in Biel eine Buchhandlung geführt hatte. Kuhn war ein sparsamer asketischer Mensch. Er hat sich nicht viel geleistet. Er hat kein Golf gespielt.

Affäre Schenker

«Unbedeutende Arbeit»


Wie beurteilen Sie die Arbeit von Hans Schenker, der in St.Katharinental Medikamente testete?


Alfred Muggli: Sie ist nicht zu vergleichen mit jener Kuhns. Schenker ging es mehr um einen Zusatzverdienst. Er führte in seinen Studien Teilnehmer weiter, die gestorben waren. Seine Arztgehilfin stellte eine Dokumentation zusammen, die sie auch mir als Präsident der Ärztegesellschaft angeboten hat. Ich verwies sie an den Regierungsrat. Sie übergab die Dokumentation auch Thomas Onken, der sie für seinen Ständeratswahlkampf nutzte. Schenker versteuerte den Nebenverdienst nicht, er wurde deswegen verurteilt. Er hat auch die Firmen betrogen. Soweit ich orientiert bin, testete er zugelassene Medikamente. Wissenschaftlich war seine Arbeit unbedeutend.

Wozu dienen solche Tests?

Um zu schauen, wie sich die Medikamente bewähren. Beispielsweise wurde Stugeron ursprünglich gegen Arterienverkalkung eingesetzt. Später stellte man fest, dass es gegen Arterienverkalkung nichts nützt, aber eine ausgezeichnete Wirkung gegen Schwindel hat. Ich glaube nicht, dass Schenker diese Nebenwirkung entdeckt hat. (wu)