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Der Fall Hefenhofen hat Schlagzeilen gemacht: Ein Jahrzehnt lang durfte ein Bauer Tiere halten, obwohl er als Tierquäler vorbestraft war. Erstmals lässt sich die tragische Geschichte aufgrund von Gerichtsakten ganz erzählen. Eine Serie der NZZ – Teil 1: Die Wut des Tierquälers.
«Hosenscheisser!», schreit der Bauer. Wütend stampft er um den Thurgauer Kantonstierarzt Paul Witzig herum, zielt mit einer Pistole auf ihn. Witzig sucht Deckung hinter dem Anwalt des Bauern. Sein Puls rast, Angstschweiss rinnt. «Hosenscheisser!» Wieder einmal ist auf dem Hof von Ulrich Kesselring eine Inspektion ausser Kontrolle geraten. Es ist kurz nach 14 Uhr am 27. Oktober 2009. Witzig ist wie angemeldet mit einem Mitarbeiter in Hefenhofen vorgefahren, um die Tierhaltung zu überprüfen.
Kesselring, seine Frau, ein Baby im Arm, und der Anwalt haben den Kantonstierarzt empfangen, ihm sogleich ein Papier in die Hand gedrückt, in dem ihm vorgeworfen wird, Kesselring seit Jahren widerrechtlich zu schädigen. Witzig weigert sich, ein solches Schuldeingeständnis zu unterzeichnen, ein Wort gibt das nächste. Kesselring sagt:
«Es wäre ein Glück, würden Sie in den nächsten Ferien mit dem Flieger abstürzen.»
Erst packt er den Kantonstierarzt am Oberarm, dann nimmt er ihn in den Würgegriff, wie er später vor dem Untersuchungsrichter freimütig einräumt, zieht die Pistole aus dem Hosensack, drückt sie Witzig in den Rücken: «So, jetzt ist fertig!»
Nachdem sich Witzig hinter den Anwalt geduckt hat, höhnt Kesselring: «Schau den Hosenscheisser, wie er sich versteckt, dabei ist die Pistole ja nicht einmal geladen.» Dann bricht er ab, versetzt Witzig noch einen Fusstritt und lässt ihn im Auto das Weite suchen. Die Pistole sieht einer Militärwaffe täuschend ähnlich. Sie ist aber aus Plastik und gehört einem der Buben des Bauern.
Dies ist nur eine von zahllosen Episoden auf dem Hof des Bauern und Pferdezüchters Ulrich Kesselring, der im August letzten Jahres in die Schlagzeilen geriet, weil er Tiere auf seinem Hof vernachlässigt und gequält haben soll. Die öffentliche Empörung richtete sich rasch auch gegen die Thurgauer Behörden: Sie liessen es zu, dass der renitente Bauer bis zur Räumung seines Hofs am 7. August 2017 stets Tiere halten durfte. Die entscheidende Frage: Was lief schief?
Die Thurgauer Regierung setzte eine Untersuchungskommission unter Leitung des früheren Zuger Regierungsrats Hanspeter Uster ein, die nun am 31. Oktober ihre Erkenntnisse zur Rolle der Behörden veröffentlichen wird. Es dürfte sich um den komplexesten und umfassendsten Tierschutzfall der Schweiz handeln. Die NZZ hat allein 50 Gerichtsurteile zur Causa Hefenhofen ausgewertet, 15 davon seitens des Bundesgerichts (10 davon aufgrund von Beschwerden Ulrich Kesselrings, 5 durch den umstrittenen Tierschützer Erwin Kessler). Hinzu kommen Dokumente der Thurgauer Staatsanwaltschaft. Der vorliegende Text hält sich eng an diese Dokumente: Anklageschriften und Nichtanhandnahmeverfügungen, Urteile des Bezirksgerichts Arbon, des Thurgauer Ober- und Verwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichts.
Seitens der Strafgerichte war klar: Die Tierhaltung auf dem Hof Kesselring ist nicht tolerierbar. Mehrfach verurteilten sie den Bauern rechtsgültig wegen Tierquälerei und weiterer Delikte; er sass in Haft, wurde psychiatrisch begutachtet und behandelt. «Systematisch und wiederholt», so steht in einem Bericht, verletze er die geltenden Tierschutzvorschriften zur Pferdehaltung. Die Richter hielten es für erwiesen, dass er dies «wissentlich und willentlich» tue, «ohne mit der Wimper zu zucken».
Laut einem Urteil des Bezirksgerichts Arbon liess er «mit keiner einzigen Aussage ein winziges bisschen Tierliebe» erkennen; seine Einstellung Menschen gegenüber scheine sich «in grossen Teilen mit seiner Haltung Tieren gegenüber zu decken». Kesselring dulde keine andere Meinung und keinen Widerspruch:
«Andernfalls ist er ohne weiteres zur Gewaltandrohung und sogar zur gewaltsamen Durchsetzung seines Willens bereit.»
Ulrich Kesselring kommt am 2. Juni 1968 in Scherzingen am Bodensee zur Welt. Nach der Primar- und Realschule arbeitet er auf dem Bau und in der Landwirtschaft, heiratet, zeugt acht Kinder, lauter Buben. Mit 27 Jahren übernimmt er den Hof seines Vaters Hans im Ortsteil Brüschwil in Hefenhofen, betreibt Pferdezucht und -handel, ebenso Viehwirtschaft, beginnt mit dem Direktverkauf von Milch.
Im September 1997 gerät er erstmals mit dem Gesetz in Konflikt: Das Bezirksgericht Arbon verurteilt ihn wegen Drohung gegen einen Beamten zu einer Busse von 300 Franken. Im Jahr 2000 streitet er sich mit dem Gemeinderat von Hefenhofen um die Erweiterung seines Hofs: Weil Kesselring massiv von den bewilligten Bauplänen abweicht, erlässt der Gemeinderat einen Baustopp, den er missachtet, worauf die Gemeinde Anzeige beim Bezirksamt Arbon erstattet. Dieses brummt ihm eine Busse von 1000 Franken auf. Kesselrings Einsprache beim Bezirksgericht ist erfolgreich: Es spricht ihn von Schuld und Strafe frei. Seine Rechtfertigung erscheine glaubwürdig, wonach er nur weitergebaut hat, um seine Kühe vor Regen zu schützen.
Wenig harmonisch ist auch das Verhältnis zum Schweizer Milchproduzentenverband: Dieser fordert mehrfach Beiträge ein, doch Kesselring zahlt nicht. 2003 muss er erstmals vor den Thurgauer Oberrichtern antraben, welche die Ansprüche des Verbands schützen und eine Betreibung zulassen. Am selben Tag, ein Zufall, erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage gegen ihn wegen mehrfacher Drohung gegen Behörden und Beamte, Widerhandlungen gegen das Lebensmittelgesetz sowie mehrfacher Widerhandlungen gegen das Tierseuchen-, das Umweltschutz- und erstmals auch das Tierschutzgesetz. Der Konflikt um den Hof in Hefenhofen verschärft sich mehr und mehr.
Das Gasthaus «Frohsinn» direkt neben Kesselrings Hof wird von Verwandten geführt. Die Gäste essen gern ein Stück Fleisch, Bauer Ulrich Kesselring liefert es. Auf dem Platz vor dem Miststock schlachtet er die Tiere, zerlegt die Körper in der Milchkammer des Stalls, lagert das Fleisch in Kühltruhen im Keller seines Wohnhauses. Mindestens drei Kühe, fünf Kälber, zwei Schafe und fünf Schweine landen in den Kühltruhen und bald danach auf den Tellern im «Frohsinn».
Am Freitagabend des 5. Aprils 2002 bereitet eine unangemeldete Kontrolle dem Schlachten ein Ende. Kantonstierarzt Paul Witzig, ein Lebensmittelinspektor und die Polizei finden Gestelle und Kühltruhen voller Fleisch, in einem der Kühlschränke auch massiven Madenbefall, verbunden mit Gestank; vor Tagen ist das Kühlaggregat ausgefallen. Die Schlachterei ist weder angemeldet noch genehmigt.
Die Beamten treffen auf dem Hof zwei Türken an, die gerade wegfahren wollen. Im Kofferraum ihres Wagens entdecken sie Harasse mit ungekühltem Fleisch, beim Miststock Blutspuren. Soeben sind zwei Schafe, welche die Türken Kesselring abgekauft haben, rituell geschächtet worden: auf den Boden geworfen und gefesselt, ihre Halsschlagadern werden durchgeschnitten, die Tiere bluten aus. Das Fleisch ist für ein religiöses Familienfest bestimmt. Rasch stellt sich heraus, dass schon in den Monaten zuvor auf dem Hof Tiere geschächtet worden sind, obwohl das in der Schweiz verboten ist.
Auf die Strafanzeige des Veterinäramts reagiert Ulrich Kesselring mit telefonischen Morddrohungen gegen Paul Witzig. Vor dem Untersuchungsrichter zürnt er: Sollten die behördlichen Abklärungen nicht gestoppt werden, werde er nach Frauenfeld – zum Sitz des Veterinäramts – fahren und «von Hand abrechnen». Vor Gericht zeigt sich Kesselring geständig, doch ohne Reue. Er wird schuldig gesprochen wegen mehrfacher Widerhandlung gegen das Tierschutzgesetz und Drohung gegen Behörden und Beamte, erfährt jedoch «in dubio pro reo» Freisprüche in weiteren Anklagepunkten. Das Strafmass: ein Monat Gefängnis und 2000 Franken Busse, bedingt ausgesprochen mit vierjähriger Probezeit, die später auf sechs Jahre verlängert wird.
Der Hof Kesselring gerät auch auf den Radar des umstrittenen Tierschützers Erwin Kessler, Präsident des Vereins gegen Tierfabriken (VgT), Thurgauer auch er. Am 13. Mai 2005 fährt Kessler in Begleitung einer Kollegin auf dem Hof vor, um Fotos zu machen, nachdem er einen Hinweis auf verbotene Anbindehaltung von Pferden erhalten hat. Er trifft auf Hans, den inzwischen verstorbenen Vater von Ulrich. Hans Kesselring ist zu diesem Zeitpunkt 59-jährig, kräftig und voluminös. Hans arbeitet auf dem Hof mit und bietet Pferdekutschenfahrten an. Mit Sohn Ulrich teilt er die Wut auf Behörden und Tierschützer.
Als Vater Hans realisiert, wen er vor sich hat, rastet er aus und schlägt mit einer Longierpeitsche auf Kessler ein. Dieser nimmt mit seiner Begleiterin Reissaus, doch an der Hauptstrasse holt der alte Kesselring ihn ein, wirft sich auf ihn, reisst ihn zu Boden, schlägt mit den Fäusten auf ihn ein, nimmt ihn in den Schwitzkasten. Rittlings auf Kessler sitzend, schreit er:
«Ich brech dir das Genick.»
Als ein Nachbar auftaucht, fordert er diesen auf, Kessler gemeinsam «zum Bschüttichaschte» zu zerren und hineinzuwerfen. Der Nachbar will nicht recht, Kessler kann sich mit zerbrochener Brille und zerschlissener Hose entwinden, worauf Hans Kesselring noch dessen Fotoapparat zertrampelt. Später stellt der Arzt bei Kessler Rissquetschwunden und Prellungen fest.
Es dauert ganze vier Jahre, bis der Vorfall zur Anklage gelangt, weshalb der VgT die thurgauischen Justizbehörden wegen Verfahrensverschleppung vor Bundesgericht zieht und recht erhält. Hans Kesselring wird wegen einfacher Körperverletzung, mehrfacher Drohung und Sachbeschädigung verurteilt, ebenso wegen Tierquälerei in einem weiteren Fall. Er hat seinem Sohn und einem Hufschmied geholfen, ein unruhiges Pferd zu beschlagen: Hat Bandagen im Kuhstall geholt, um die Hinterbeine des Tiers zu fesseln, hat sich auf dessen Kopf gesetzt, als es auf der Seite lag, hat diesen festgeklemmt. Das erschöpfte, gefesselte Pferd wird so lange beschlagen und malträtiert, bis es einen Kreislaufkollaps erleidet und stirbt. Als Sohn Ulrich später zum Vorfall befragt wird, meint er bloss, das Pferd sei eben ein «Rüpel» gewesen, den man besser «metzgen» und dem man «die Rübe wegschlagen» sollte.
Vier Wochen nach dem Ausraster des Vaters wird auch Ulrich wieder handgreiflich. Einem Kontrolleur des Thurgauer Amtes für Umwelt schlägt er die Faust ins Gesicht, zieht ihm einen Besenstiel über den Kopf und vertreibt ihn mit der Mistgabel vom Hof. Das Bezirksgericht Arbon büsst ihn wegen der Tätlichkeit mit 500 Franken.
2006 und 2007 kommt es zu einer Reihe von Vorfällen, die zu sechs Strafanzeigen, einem vielbeachteten Prozess vor dem Arboner Bezirksgericht und zur Schlagzeile im «Sonntags-Blick» über den «brutalsten Tierhalter der Schweiz» führen. Den Anfang macht eine Strafanzeige des Zürcher Veterinäramts, weil Kesselring in einem Schlachtbetrieb im zürcherischen Wald zwei Kälber mit deutlichen Anzeichen hochgradiger, schmerzhafter Lahmheit anliefert.
Es folgen Hinweise einer Reiterin über schockierende Zustände im Stall; Vertreter einer Stiftung für Tierschutz besuchen den Hof, Kesselring jagt sie wiederum mit einem Besenstiel und der Drohung, sie zu erschiessen, vom Hof; zwei unangemeldete Kontrollen des Veterinäramts im Beisein eines Untersuchungsrichters verlaufen friedlich. Bei der ersten Kontrolle beanstanden die Veterinäre die tierschutzwidrige Haltung von 15 Pferden, einer Kuh und drei Kälbern, bei der zweiten von 39 Pferden und fünf Jersey-Kühen: Pferde stehen angebunden in zu kleinen Boxen, in Kuhställen ist das Futter massiv verschmutzt. Zwei Kühe sind krank. Eine abgemagerte Kuh ist von Hans Kesselring erschossen worden.
Der Chef des Veterinärdiensts der Armee, die bisher von Ulrich Kesselring Pferde gekauft hat, besichtigt den Hof. Er nennt, was er sieht, ein «Pferdemassenlager». Der hygienische Zustand der Pferde sei «miserabel», Tierschutzvorschriften würden systematisch und wiederholt verletzt. Die Armee toleriert die Zustände im Hof nicht länger und kauft bei Kesselring keine Pferde mehr.
Der erste Verhandlungstermin vor dem Bezirksgericht Arbon platzt. Das Gericht ist wegen eines anderen Falls anderthalb Stunden in Verzug, Kesselring mag nicht warten und zieht von dannen. Dem zweiten Termin einige Wochen später bleibt er unentschuldigt fern. Am Telefon erklärt er, er sei am Heuen und habe keine Zeit. Im dritten Anlauf, am 7. Mai 2008, ist das Medien- und Publikumsinteresse gross, das Gericht verschiebt die Verhandlung in den geräumigen Seeparksaal.
Zwei Polizisten führen Kesselring durch einen Seiteneingang in den Saal. Er stellt ein Ausstandsbegehren gegen den vorsitzenden Richter: Dieser habe «den Laden nicht im Griff». Das Gericht lehnt ab. Der Gerichtspräsident stellt Fragen, Kesselring verweigert die Aussage. Plötzlich ertönt aus dem Saal der Zwischenruf einer empörten Zuschauerin: «Dir sött mer d’Rüebe abschloh!» Darauf verlässt Kesselring wutentbrannt den Gerichtssaal.
In Abwesenheit spricht ihn das Gericht der Drohung, der mehrfachen Tierquälerei sowie der mehrfachen Übertretung des Tierschutz-, des Lebensmittel- und des Tierseuchengesetzes schuldig, verurteilt ihn zu einer Geldstrafe von 9000 Franken und einer Busse von 2000 Franken, schützt auch die Forderung einer Zivilklägerin. Ein Bericht hält fest, dass Ulrich Kesselring «systematisch und wiederholt die geltenden Tierschutzvorschriften zur Pferdehaltung in diversen Bereichen verletzt».
Laut dem Urteil ist die Situation auf Kesselrings Hof «geradezu erschütternd». Der Bauer zeige zudem ein durchwegs «renitentes Verhalten» und «keinerlei Einsicht in den Unrechtsgehalt seiner Taten». Er bringe keine Reue zum Ausdruck und habe mehrfach gezeigt, dass er «lediglich an sich denkt und sich im Recht wähnt, ohne jegliche Form der Selbstreflexion».
Kesselring zieht das Urteil weiter. Der Verhandlung vor dem Thurgauer Obergericht bleibt er unentschuldigt fern. Seine Berufung wird abgewiesen, in letzter Instanz am 26. Februar 2010 auch durch das Bundesgericht.
Kurz nach dem erstinstanzlichen Urteil ruft eine Frau, die mit Erwin Kessler in Kontakt steht, Ulrich Kesselring an, spricht ihn auf die Delikte an, für die er bestraft worden ist. Er echauffiert sich dermassen darüber, dass er die Frau in den folgenden Wochen mit 31 Telefonanrufen belästigt, oft nach Mitternacht, um ihre Nachtruhe zu stören. Nach fünf Wochen hat sie genug und zeigt ihn an.
Als im September 2008 ein Kontrolleur des Kantons, begleitet von zwei Polizisten, die Einhaltung der Gewässerschutzvorschriften auf dem Hof kontrolliert, schmeisst Kesselring eine mehrere Kilo schwere Holzskulptur in Form eines Pilzes auf ihn. Der Kontrolleur dreht sich ab, worauf ihn Kesselring anschreit:
«Du verdammte Dreckchaib, ich schloh di abe!»
Die Situation eskaliert nur deshalb nicht weiter, weil einer der Polizisten die Dienstwaffe zieht und der zweite mit einem Pfefferspray auf den Bauern zielt. Weitere Kontrollen auf dem Hof ergeben diverse Beanstandungen bei der Haltung der Pferde, Fohlen, Kühe, Rinder und Mastkälber.
Es kommt zu einer neuerlichen Anklage und einer nächsten Verhandlung vor dem Bezirksgericht Arbon. Das Urteil Ende 2010 umfasst 115 Seiten. Kesselring zieht auch dieses bis vor Bundesgericht und blitzt erneut ab. Er wird nun zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von neun Monaten verurteilt.
Bereits im Juni 2010 sitzt er erstmals hinter Gittern, als ihn mysteriöse Vorfälle für 25 Tage in Untersuchungshaft bringen. Er schuldet mehreren Gläubigern Geld und droht, als es zu Streitigkeiten kommt, in gewohnter Manier: «Ich bringe euch alle um.» Im Mai 2010 fehlt dann plötzlich ein Fohlen im Stall eines der Gläubiger. Als dieser in Hefenhofen nachschaut, glaubt er im Schwemmkanal von Kesselrings Hof vier Beine zu erkennen, die aus der Gülle herausragen.
Bald darauf wird eine Fensterscheibe in der Wohnung eines Gläubigers durch zwei Schüsse beschädigt. Tags darauf stellt die Polizei bei einer Hausdurchsuchung bei Kesselring zwölf Waffen, drei Bolzenschussapparate sowie Munition sicher. Die Polizei setzt Kesselring in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen in Untersuchungshaft und lässt ihn begutachten. Spezialkräfte saugen eine Woche lang alle Güllenschächte auf seinem Hof ab. Sie finden nichts.
Die Strafuntersuchung fördert keine Beweise zutage und wird eingestellt – auch bezüglich der Schüsse. Kesselring spricht von einem Komplott und reicht seinerseits Strafanzeige wegen falscher Anschuldigungen ein. Ebenso will er für wirtschaftliche Einbussen während seiner Untersuchungshaft mit 247 499 Franken entschädigt werden. Es folgt ein juristisches Hickhack bis vor Bundesgericht, das abgesehen von einer geringen Entschädigung für Kesselring im Sand verläuft.
In der Zeitspanne zwischen dem Absitzen der Gefängnisstrafe 2013 und der Zwangsräumung seines Hofs 2017 wird Ulrich Kesselring nicht mehr als Tierquäler verurteilt. Ruhe kehrt auf seinem Hof dennoch nicht ein. Bei Kontrollen des Veterinäramts erweist sich die Tierhaltung weiterhin als nicht gesetzeskonform. Im November 2014 tötet Kesselring im Beisein von zwei Polizisten ein Pferd, indem er ihm mit einem Bolzenschussgerät zuerst in die Stirn und danach ins Genick schiesst.
Nach einer Anzeige beim Thurgauer Veterinäramt ist eine aufgebotene Tierärztin zum Schluss gekommen, dass das Tier wegen einer schlecht gepflegten und infizierten Wunde am hinteren rechten Bein hochgradig lahm und baldmöglichst zu liquidieren sei. Das Veterinäramt rügt anschliessend die mehrfache Verletzung der Tierschutzvorschriften sowie die nicht fachgerechte Tötung und Entsorgung des Kadavers, was Kesselring erfolglos bis vor Bundesgericht anficht.
Ende Juni 2015 treffen Kontrolleure auf dem Hof auf ein halbjähriges, hochgradig lahmendes Fohlen und fordern Kesselring auf, es umgehend von einem Tierarzt behandeln zu lassen. Er tut dies nicht und ignoriert die verfügte Beschlagnahmung des Tieres, stattdessen schlachtet er es. Auch diesmal ficht er die Verfügung des Veterinäramts ohne Erfolg bis vor Bundesgericht an.
Im Juli 2017 erstattet eine ehemals auf dem Hof tätige Frau Anzeige beim Veterinäramt. Auf 142 Bildern, welche die Staatsanwaltschaft für authentisch hält, hat sie die Situation auf dem Hof dokumentiert. Am 3. August veröffentlicht der «Blick» einzelne der Bilder. Die Frau erzählt, dass die Zustände schlimmer geworden seien, seit die Ehefrau Kesselrings ihn und den Hof verlassen habe und eine neue Freundin eingezogen sei. In einem halben Jahr seien mindestens 13 Pferde verendet. Als am 7. August die Behörden den Hof zwangsräumen, nehmen sie 93 Pferde, rund 50 Kühe, 80 Schweine, Ziegen, Schafe und 4 Lamas mit. Fünf Tiere müssen eingeschläfert werden, weil sie nicht transportfähig sind. Ein Drittel der Schweine wird geschlachtet; sie leiden unter Nabelbrüchen, Hodenbrüchen oder Kryptorchismus, einer Hodenkrankheit.
Im Sommer 2018 ist auf dem Hof von Ulrich Kesselring wieder Leben eingekehrt: Statt Tiere leben Fahrende hier. Noch sind zahlreiche Verfahren in Justiz, Verwaltung und Politik hängig, welche die einstigen Zustände aufarbeiten sollen. Für Kesselring ist das Prozessieren Teil des Lebens geworden. In einzelnen Fällen hat er Teilerfolge feiern können, meist aber ist er mit Rekursen und Beschwerden abgeblitzt. So auch im Fall eines Pferdes in seinem Besitz, das notfallmässig ins Tierspital der Universität Zürich eingeliefert werden musste. Kesselring weigerte sich, die fällige Rechnung von 1719 Franken 30 zu bezahlen, und wehrte sich mit dem Hinweis, dass er weder schriftlich noch mündlich einen Auftrag zur Behandlung erteilt habe, bis vors Thurgauer Obergericht. Das Obergericht wies die Beschwerde mit der Begründung ab, es sei «bisher noch nicht vorgekommen, dass sich ein Pferd von sich aus und selbständig in die Behandlung des Tierspitals in Zürich begab».
kru. In einer dreiteiligen Serie wertet die NZZ Gerichtsakten zum Fall Hefenhofen aus. Dieser erste Teil erzählt die Geschichte des Pferdehändlers, der zweite Teil wird sich dem Verhalten der Thurgauer Behörden widmen, der dritte die finanziellen Konsequenzen aus den Gerichtsfällen unter die Lupe nehmen.
Dieser Artikel erschien am 24. Oktober 2018 in der NZZ