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Das Projekt der Münchner Künstlerin Karolin Bräg soll künftig an die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 sowie an die Medikamententests in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen zwischen 1940 und 1980 erinnern. Das hat der Thurgauer Regierungsrat entschieden.
Es sind dunkle Kapitel der Thurgauer und Schweizer Sozialgeschichte: Medikamententests, fürsorgerische Zwangsmassnahmen, Fremdplatzierungen. Als weiteren Schritt der Aufarbeitung hat sich die Thurgauer Regierung vor einem Jahr entschlossen, ein Zeichen der Erinnerung zu schaffen.
(seb.) Für das Projekt Zeichen der Erinnerung stellt die Regierung 250 000 Franken aus dem Lotteriefonds zur Verfügung, sagt Regierungsrätin Carmen Haag. Diese Zeichen sollen an die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 sowie an die Medikamententests in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen (1940 bis 1980) erinnern. Der Bund setzt sich laut Gesetz dafür ein, dass die Kantone Zeichen der Erinnerung schaffen.
Nun ist bekannt, wer das Zeichen setzen darf: Karolin Bräg, Jahrgang 1961, wohnhaft in München, hat sich gegen sieben Mitbewerber durchgesetzt. Ihr Ansatz: Ein Haus der Erinnerung. «Die Auswahl ist einstimmig erfolgt», sagt Christa Thorner, Präsidentin der Beurteilungsjury.
Das «Prozessuale» von Brägs Ansatz habe die Jury überzeugt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wohnen künftig gemeinsam im Haus. Die Künstlerin führt Gespräche mit Betroffenen und Nichtbetroffenen. «Dafür wohnt sie für ein paar Monate im Thurgau», sagt Staatsarchivar André Salathé. Fragen zur Würde des Menschen stehen im Zentrum. Die Essenz der Gespräche will Bräg handschriftlich an die Fassade des Hauses anbringen.
Das Haus kommt vor die Abdankungshalle des ehemaligen Spitalfriedhofs in Münsterlingen zu stehen, der ebenfalls erneuert wird. Es ist vollständig aus Sandstein, Zimmer hat es keine. «Es mutet archaisch an», wie Salathé es formuliert.
Vom Haus werden links und rechts zwei Teile abgetrennt. Sie finden als sogenannte Partnerzeichen bei der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen und in Kalchrain ihren definitiven Bestimmungsort. Robert Blaser, Präsident des Vereins Fremdplatziert und Jurymitglied, sagt: «Für mich war wichtig, dass Kalchrain einbezogen wird.» Dort habe er selber eine «schlimme Zeit erlebt».
Wie Staatsarchivar Salathé erläutert, war der ehemalige Spitalfriedhof – «im Volksmund Armenfriedhof oder Fremdenfriedhof» – eine kantonale Ruhestätte.
«Dort sind Menschen begraben, die in den zwei Kliniken gestorben sind.»
Der Friedhof selbst stehe «für das Problematische», ist also ein Ort der Erinnerung. Ebenso die Standorte für die zwei Partnerzeichen. Das heutige Massnahmenzentrum Kalchrain diente von 1852 bis 1942 als Zwangserziehungsanstalt für «liederliche» und «lebensuntüchtige» Männer und Frauen.
Mit der Einweihung im Frühsommer 2022 soll das «Prozessuale» nicht versanden. Salathé sagt:
«Die Zukunft kann partizipieren.»
So zieht in die Abdankungshalle ein Dokumentationszentrum ein. Der Diskurs soll weitergeführt werden. Besucher dürfen ihre Gedanken notieren und in einem Box werfen. Allenfalls finden sie Eingang in ein Buch. Regierungsrätin Carmen Haag betont: «Wichtig ist, dass es etwas ist, das bleibt.» Laut Salathé handelt es sich um das erste Denkmal des offiziellen Thurgaus. Das Soldatendenkmal in Frauenfeld etwa wurde von einer privaten Gruppierung initiiert.
Robert Blaser gefällt der Gedanken, dass beim Haus der Erinnerung auch eine «Versöhnung mit den Tätern» stattfinden könne. «Dass sich der Thurgau zu einem Mahnmal durchringen konnte, ist ein sehr wichtiges Zeichen.»
Ab 3. November können die vier Projekte der zweiten Runde im Seminarraum des Staatsarchivs in Frauenfeld betrachtet werden.