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Der Freisinnige Hansjörg Brunner muss ab Dezember seinen Sitz im Nationalrat dem Thurgauer Grünen-Parteipräsidenten Kurt Egger überlassen. Brunner muss sich neu orientieren, interessiert sich aber weiterhin für das Präsidium des Schweizerischen Gewerbeverbands.
Wie geht es Ihnen?
Eigentlich schlecht. Ich schlafe nicht mehr gut seit vorletztem Sonntag. Das Wahlresultat hat mich getroffen. Sonst schlafe ich immer gut, ich bin mich das gar nicht gewöhnt. Jetzt denke ich viel nach, ich träume auch viel.
Worüber denken Sie nach?
Einerseits an die Zukunft, an die verpassten Möglichkeiten. Ich hatte mich darauf eingestellt, in weiteren Kommissionen Einsitz zu nehmen, in der Fraktion aufzusteigen und stärker in der Partei mitzureden.
Anderseits an die Vergangenheit, was Sie anders hätten machen können?
Ich sehe es nicht als Abwahl von mir an, sondern es hat der Partei nicht gereicht. Mit meinem persönlichen Resultat darf ich zufrieden sein. Das gibt mir Mut. Ich würde es wieder so machen, wie ich es gemacht habe. Ich war zwei Jahre unterwegs. In unserer Partei war es scheinbar schwieriger, die Leute zu mobilisieren. Man wollte nicht mich abwählen. Von den verschiedenen Konstellationen, die möglich waren, ist einfach die dümmste eingetreten.
In einer Listenverbindung mit den Mitteparteien hätte die FDP Thurgau ihren Sitz halten können.
Ja, das hätte gereicht. Aber für diesen Bereich ist die Parteileitung zuständig. Da müssen Sie den Parteipräsidenten fragen.
Er möchte Listenverbindungen abschaffen.
Für die Wähler sind sie schwer zu durchschauen. Man muss einräumen, dass wir auch schon von einer Listenverbindung profitiert haben.
2015 hatte die Verbindung mit der Mitte den Gewinn des FDP-Sitzes abgesichert. War es im Nachhinein unglücklich, dass Herman Hess gewählt wurde und nicht Sie?
Nein.
Sie hätten mit vier statt nur mit zwei Jahren Erfahrung zur Wiederwahl antreten können.
Ich glaube nicht, dass es viel geändert hätte. Ich habe viel Rückhalt gespürt. Auch jetzt erhalte ich viele positive Meldungen aus allen Kanälen.
War die FDP-Liste diesmal schwächer als jene vor vier Jahren?
Vor vier Jahren war die Ausgangslage eine andere. Damals war klar: Wer am meisten Stimmen holt, der wird Nationalrat. Jetzt konnte man nur dem helfen, der zur Wiederwahl antritt.
«Wir sind auch etwas unter die grüne Welle geraten.»
Ist Ihr Engagement in der FDP nun beendet?
Ich bin gern bereit, mich weiter zu engagieren. In der Parteileitung war ich nur in meiner Funktion als Nationalrat. Das ist vorbei. Ich bin noch im Vorstand der FDP Eschlikon-Sirnach. Sonst habe ich keine Funktion mehr.
Sie sind Präsident des Thurgauer Gewerbeverbands; dieser hat nur Kandidaten der bürgerlichen Parteien unterstützt, was von Grünen und Grünliberalen kritisiert worden ist. Bleibt es dabei?
Der Vorstand hat das bei der nächsten Sitzung traktandiert. Genützt hat die Unterstützung eigentlich niemandem.
Im März stehen Grossratswahlen an; da könnte sie eine Rolle spielen.
Bei den Grossratswahlen sind es die Sektionen, die über eine Wahlempfehlung entscheiden.
Ist es richtig, dass Sie möglicherweise Präsident des Schweizerischer Gewerbeverbands geworden wären?
Ja. Aber es ist nicht so, dass das gar nicht mehr geht. Die Voraussetzungen sind nur schwieriger geworden. In den Statuten steht nicht, dass der Präsident ein eidgenössischer Parlamentarier sein muss, es wird gewünscht, wie auch dass man zweisprachig sein und ein eigenes Geschäft führen müsse.
Das würde auf Sie zutreffen. Also sind Sie immer noch interessiert?
Ja. Dem Gewerbeverband ist vorgeworfen worden, er sei zu eng mit der Parteipolitik verbunden. Man könnte jetzt behaupten: Am besten wird ein ehemaliger Parlamentarier Präsident. Er hat Zeit und verfügt über einen guten Zugang zum Parlament. Als Altnationalrat hat man immer einen Badge ins Bundeshaus.
Der Kandidat der Grünen, Kurt Egger, kämpfte am 20. Oktober mit den Tränen vor Freude über seine Wahl in den Nationalrat. Der Freisinnige Hansjörg Brunner musste sich damit abfinden, seinen Platz in Bern für Egger zu räumen. Während Egger seinen Wechsel aus der kantonalen in die nationale Politik vorbereitet, gönnt sich Brunner Ferien in Rom, ist aber für ein Telefoninterview erreichbar.
Der Sitzgewinn der GP auf Kosten der FDP kam für die meisten Beteiligten unerwartet. Den Ausschlag gaben die Listenverbindungen. 2015 hatte die FDP in einer Mitte-Allianz den Sitz zurückgeholt, den sie 2011 an die GLP verloren hatte. Nun wurde erwartet, dass die FDP in der Listenverbindung mit der SVP und der EDU wieder Erfolg hat. Die SVP konnte jedoch ihre drei Sitze verteidigen, ebenso die CVP und die SP die ihrigen.
Hätte sich die FDP 2019 der Verbindung CVP-BDP-EVP anschliessen können, hätte sie ihren Sitz behalten und die GP keinen gewonnen. Die CVP wollte jedoch die FDP nicht ohne GLP in die Verbindung aufnehmen. Denn ein zusätzlicher Sitz für die Mitte erschien ihr mit der GLP wahrscheinlicher als mit der FDP. Tatsächlich hätte die GLP mit den Mitteparteien einen Sitz gewonnen, sah jedoch die Chance nicht. Sie hätte sich der Mitte auf jeden Fall nur ohne FDP angeschlossen, zögerte den Entscheid aber hinaus in der Hoffnung, die GP für eine Zweierverbindung gewinnen zu können. Die GLP wäre mit der GP allein ebenso leer ausgegangen wie in der zu Stande gekommenen Dreierverbindung GLP-GP-SP.
Gäbe es keine Listenverbindungen, respektive nur Verbindungen innerhalb derselben Parteifamilie wie SVP und Junge SVP, dann würde Brunner im Nationalrat bleiben und Egger im Grossen Rat. Parteifusionen würden gefördert, da die Wahlchancen besser wären.
Der Frauenfelder Ingenieur Thomas Schweizer macht sich in einer im Internet publizierten Untersuchung für ein System ohne Listenverbindungen stark. Er warnt jedoch davor, Listenverbindungen zu verbieten, ohne das Proporzwahlverfahren zu ändern. Sonst würden die grossen Parteien nur noch stärker bevorteilt als im jetzigen System. Nach dem von Schweizer bevorzugten Verfahren hätte die SVP nur zwei Sitze, während FDP, CVP, GP und SP je einen Sitz erhalten hätten.
In dem seit 1919 für die Nationalratswahlen geltenden Proporzsystem werden die Stimmen durch die um eins erhöhte Anzahl zu vergebender Sitze geteilt, um die sogenannte Verteilzahl zu erhalten. Die Erhöhung sollte für ein definitives Resultat in der ersten Verteilung beitragen, es erhält aber ein Element der Majorzwahl im Proporzsystem. Der Vorteil der Grossen zeigt sich etwa daran, dass die Thurgauer SVP mit 36,7 Prozent der Stimmen 50 Prozent der Sitze geholt hat. Undemokratisch ist das nicht: Auch reine Majorzwahlen als demokratisch gelten.