Zweite Instanz war kein Thema

Das Bundesgericht vermisst eine zweite kantonale Instanz nach dem Handelsgericht. Der Präsident des Handelsgerichts wundert sich darüber. Das Kassationsgericht, das diese Funktion erfüllte, ist erst kürzlich abgeschafft worden.

Andreas Kneubühler
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ST. GALLEN. Aargau, Bern, St. Gallen und Zürich. Das sind die vier Kantone, in denen es ein Handelsgericht gibt. Der Grund war die wirtschaftliche Entwicklung, aus der sich das Bedürfnis nach einem schnellen richterlichen Entscheid bei Streitigkeiten zwischen Firmen entwickelte. In St. Gallen gab es zur Hochblüte der Textilindustrie ein Stickereifachgericht, das zu den Vorläufern des heutigen Handelsgerichts gehörte.

Mit der Einführung der neuen Zivilprozessordnung 2010 wurden die Handelsgerichte einheitlich organisiert und eigentlich schien damit ihr Fortbestand gesichert. Nun werden sie aber – nach nur einem Jahr Praxis – in Frage gestellt. So zumindest kann man den «Hinweis an den Gesetzgeber» interpretieren, den das Bundesgericht im Jahresbericht veröffentlicht hat. Das höchste Gericht schlägt vor, das Gesetz so zu ändern, dass «Entscheide und Verfügungen der Handelsgerichte innerkantonal anfechtbar werden». Begründet wird der Wunsch mit der Zahl der Beschwerden ans Bundesgericht, die stark gestiegen seien.

Kalte Abschaffung?

Der Hintergrund der Geschichte: Im Kanton St. Gallen – wie auch in Zürich – wurde das Kassationsgericht, das genau diese Funktion einer zweiten kantonalen Instanz erfüllt hatte, gerade erst abgeschafft. Eine Wiedereinführung scheint unwahrscheinlich.

Der Vorstoss des Bundesgerichts könnte deshalb zu einer «kalten Abschaffung der Handelsgerichte» führen, wie der «Tages-Anzeiger» kürzlich vermutete. Daran glaubt man in St. Gallen allerdings nicht. Der Vorstoss des Bundesgerichts sei «eine grosse Überraschung», sagt Rolf Brunner, Präsident des St. Galler Handelsgerichts. Die Kritik weist er zurück – zumindest in bezug auf seine Institution: Es habe nur eine Beschwerde ans Bundesgericht mehr gegeben als im Vorjahr.

Das Kassationsgericht sei unter anderem abgeschafft worden, weil es kaum Fälle behandeln musste, erinnert der Gerichtspräsident. Eine zweite kantonale Instanz sei bei der Beratung über die neue Zivilprozessordnung kein Thema gewesen. Schliesslich ginge damit auch der grosse Vorteil des Handelsgerichts verloren: Ein schneller, kurzer Prozessweg. «Es gibt relativ rasch einen Entscheid eines Fachgerichts», sagt Brunner. Das wirkt sich aus: Die Hälfte der Fälle vor Handelsgericht endet jeweils mit einem Vergleich. Die neue Zivilprozessordnung brachte allerdings Veränderungen für das St. Galler Handelsgericht mit sich, die brisanter sind als die Kritik des Bundesgerichts.

Öffnung für Privatkläger

Vorher mussten nämlich jeweils beide Parteien im Handelsregister eingetragen sein. Es waren also nur Rechtsstreitigkeiten zwischen Firmen möglich. Das ist nun anders. Neu können auch Private gegen eine Bank oder eine Versicherung klagen. Damit wird die Zusammensetzung des Handelsgerichts zum Thema. Neben zwei Kantonsrichtern entscheiden jeweils drei Fachrichter mit. Bei Versicherungsfällen sind es in der Regel Angestellte von Versicherern. Diese Konstellation kann für einen Privatkläger heikel sein. Es stellt sich die Frage nach der Unabhängigkeit des Gerichts. Er könne sich vorstellen, dass Anwälte in solchen Fälle ihren Klienten eher davon abraten, vor Handelsgericht zu klagen, vermutet Brunner.

Mit der Öffnung für private Kläger sollen nun erst einmal Erfahrungen gesammelt werden. Klar ist, dass bisher keine Experten, die hauptberuflich Unfallopfer oder Patienten vertreten, als zusätzliche Richter gewählt wurden, wie das in Zürich nach längerer politischer Diskussion der Fall ist. Man wolle nicht zu einer paritätischen Schlichtungsstelle werden, sagt Brunner. Er glaubt, dass die neue Regelung sich weniger bei Bank- oder Versicherungsfällen auswirken werde, dafür bei Baustreitigkeiten. Als Fachrichter könnten Architekten aus einer jeweils anderen Region beigezogen werden, erklärt Brunner. Erste solche Fälle gibt es bereits.