Wer nicht mobil ist, verliert den gesellschaftlichen Anschluss. Kein Wunder, weckt der obligatorische Fahreignungstest, den alle 70-Jährigen erstmals absolvieren müssen, Ängste. Dies zeigte auch ein Podium in Weinfelden.
WEINFELDEN. Eingeladen zum Podium mit dem provokanten Titel «Ü70: Fahrt in die Bevormundung?» hatte Top 60, eine aus der FDP Thurgau hervorgegangene Gruppierung, die sich für eine generationenverträgliche Zukunft einsetzt. Und zu einer solchen gehört nach Ansicht von Top 60 auch, dass Senioren ihre Mobilität möglichst lange beibehalten können. Aus Sicht des Bundes sollte die obligatorische ärztliche Kontrolluntersuchung, die jeder nach dem vollendeten 70. Altersjahr absolvieren muss, ein solches Puzzleteil sein, das zum Erhalt der eigenen Mobilität beiträgt. Doch viele Senioren sehen das anders. Oder wie Moderator René Künzli erklärte: «Wer 70 geworden ist, wird ohne Aufklärung und freien Willen aufgeboten – sofern er den Führerausweis behalten möchte. Dann kann man ihn gleich abschaffen.» Für den Geschäftsführer des Thurgauer Strassenverkehrsamtes, Ernst R. Anderwert, macht der Test Sinn, denn «altersbedingte Krankheiten beeinträchtigen die Fahreignung zunehmend. Und zum Erhalt der Fahreignung müssen nun mal Mindestanforderungen erfüllt sein.» Tatsache sei, dass leistungsmindernde Hirnerkrankungen (Demenz) «nicht in Eigenverantwortung wahrgenommen werden können», so Anderwert. Er wünsche sich jedoch, dass man nicht alle Autofahrer gleich behandle, sondern nur jene zum «Tubeli-Test» schicke, bei denen man «einen Anlass» ausgemacht habe.
Für SP-Nationalrätin Edith Graf-Litscher, Frauenfeld, stellt die Kontrolluntersuchung «keine Strafe, sondern eine Hilfe» dar, denn «sie soll dazu dienen, die Mobilität und Sicherheit so lange wie möglich sicherzustellen. Wenn etwas vorliegt, soll man es sofort behandeln können», so die Bundesparlamentarierin. Ein Aufstocken auf 75 Jahre erachtete Graf-Litscher als ungeeignet: «Dann kann man den Test gleich abschaffen.»
Ihr Ratskollege Markus Hausammann (SVP, Langrickenbach) möchte hingegen «unbedingt an der Eigenverantwortung festhalten». Jeder, der sich nicht mehr hundertprozentig fit fühle, könne doch «schon früher zum Arzt gehen». Ähnlich argumentiert der Regierungsrat in spe, Walter Schönholzer. Er sprach sich dafür aus, weniger obligatorische Kurse – sowohl für Junglenker als auch für die Senioren – durchzuführen, denn «solche Kurse lassen einen denken, dass man es nachher wirklich besser kann – und dann knallt es wirklich, weil man sein Können falsch einschätzt». Einer Altersgrenze-Erhöhung stünde nichts im Wege. «Vor 40 Jahren, als man diese einführte, war man mit 70 wirklich alt. Heute sind jedoch die Senioren fitter, und die Autos werden immer sicherer.»
Ständerätin Brigitte Häberli (CVP, Bichelsee) setzt darauf, dass der Bundesrat das Verkehrssicherheitsprogramm Via Secura «überprüft und Schwächen aufzeigt; beispielsweise auch bei diesen Tests». Auch könnten die Autos heute viel mehr als noch vor vier Dekaden: «Die Einparkhilfen gab es früher genauso wenig wie andere Fahrtechnologieunterstützung, welche für uns heute zuverlässig misst, wann wir wie viel Abstand halten müssen.» Der Neuropsychologe Gianclaudio Casutt gab zu bedenken, dass es in Deutschland keine periodische Fahreignungsprüfung für Senioren gebe, die Unfallquote mit Toten jedoch bei der Ü70-Kategorie in der Schweiz höher sei als in Deutschland. «Das kognitive Screeningverfahren ist – in bezug aufs Autofahren – nicht trennscharf und schon gar nicht auf die gesunden Senioren abgestimmt», kritisierte Casutt.
Gerade hinter sich («für 86.40 Franken») hat Alt-Bezirksgerichtspräsidentin und -Grossratspräsidentin Brigit Hänzi den Fahreignungstest. Ihr Hausarzt habe den Test «sehr genau genommen», doch für sie ist klar: «Wenn man nicht wissenschaftlich nachweisen kann, dass das was bringt, dann darf man es nicht machen.» Sowieso mache der Test wenig Sinn, denn «ich kann die Uhr ablesen und gerade laufen. Und letzteres muss ich im Auto ja nicht, da ich dort sitze. Viele ältere Menschen sind gerade dann gefährdet, wenn sie nicht mehr im Auto sitzen statt umgekehrt», sagte Hänzi.