Thurgau will Anlehre behalten

WEINFELDEN. Die Anlehre wird schweizweit abgeschafft, der Thurgauer Grosse Rat will sie trotzdem weiterführen. Der Regierungsrat muss nun gegen seinen Willen eine Vorlage erarbeiten. Davon profitieren könnten jährlich 20 bis 40 Schulabgänger.

Thomas Wunderlin
Drucken
Roland A. Huber (BDP, Frauenfeld) setzt sich für Jugendliche ein, die sowohl von einer Lehre als auch einer Attestausbildung überfordert wären. (Bild: Reto Martin)

Roland A. Huber (BDP, Frauenfeld) setzt sich für Jugendliche ein, die sowohl von einer Lehre als auch einer Attestausbildung überfordert wären. (Bild: Reto Martin)

Einige Kantonsräte hatten sich bereits in die Mittagspause verabschiedet. Mit der relativ knappen Mehrheit von 59 Ja zu 52 Nein erklärte der Grosse Rat eine Motion für die Beibehaltung der Anlehre für erheblich. Davon profitieren sollen laut Roland A. Huber (BDP, Frauenfeld) «manuell begabte Jugendliche mit geringer schulischer Leistungsfähigkeit». Sie suchten den Zugang zur Berufswelt und wollten nicht ihr Leben lang von der Fürsorge abhängig sein.

Zu den Motionären gehörten nebst Huber auch Margrit Aerne (SVP, Lanterswil), Cäcilia Bosshard (CVP, Wilen), Turi Schallenberg (SP, Bürglen) und Kristiane Vietze (FDP, Frauenfeld). Mehrheitlich abgelehnt wurde die Motion von der SVP, der FDP, der EDU/EVP. Auch der Regierungsrat war dagegen.

Gemäss dem schweizerischen Berufsbildungsgesetz von 2002 werden die Anlehren abgeschafft; die letzten laufen 2015 aus. An ihre Stelle treten ebenfalls zweijährige Ausbildungen, die mit dem eidgenössischen Berufsattest (EBA) abgeschlossen werden. Im Unterschied zu den Anlehren werden die EBA-Lehren eidgenössisch anerkannt, und ihre Kompetenzen sind schweizweit einheitlich.

Höhere schulische Anforderung

Auch der EBA-Absolvent geht einen Tag pro Woche in die Berufsschule; die Anforderungen sind aber höher. Dazu steht den EBA-Absolventen eine weitere Ausbildung offen, die zum eidgenössischen Fähigkeitszeugnis führt.

Im Kanton Thurgau schliessen rund 190 Jugendliche pro Jahr eine EBA-Ausbildung ab. Gemäss Regierungsrat gibt es 20 bis 40 Jugendliche, die das schulische Niveau für eine EBA-Lehre nicht erreichen, aber auch nicht in eine geschützte Werkstatt passen. Die Motionäre wollen für sie die Anlehre weiterführen.

Vergeblich bat SVP-Erziehungsdirektorin Monika Knill um die «Chance, im Rahmen der Attestausbildungen ein niederschwelliges Angebot zu schaffen». Gemäss der Motionsantwort des Regierungsrats könnten EBA-Lehrlinge von Lernzielen befreit werden, «um nicht ständig mit schlechten Noten demotiviert zu werden». Sie würden dann kein Attest, sondern nur eine Kompetenzbescheinigung erhalten. Sie würden so dastehen wie Absolventen einer kantonalen Anlehre. Der Bund zahlt jedoch 2962 Franken pro EBA-Lehrling. Mit diesem Beitrag kann der Thurgau nicht rechnen, wenn er in eigener Regie die Anlehren weiterführt.

Diana Gutjahr (SVP, Amriswil) fand den Aufwand für eine «so kleine Gruppierung» unverhältnismässig. Nebst schulischen Problemen hätten die Betroffenen auch ein Motivationsproblem. «Wir dürfen nicht unter jedes Netz ein noch dichteres Netz knüpfen.» Auch Paul Koch (SVP, Oberneunforn) fand, alle, die wollten, könnten eine Ausbildung finden.

Gewerbeverbandspräsident Hansjörg Brunner (FDP, Wallenwil) kritisierte, dass der Grundsatz «kein Abschluss ohne Anschluss» gebrochen werde. Wie er aus Wirtschaftskreisen wisse, sei die Anlehre kein grosses Bedürfnis. Das Potenzial sei zu gering, um genügend grosse Klassen zu bilden. «Es brauchte Klassen von drei Schreinern», fürchtete Helen Jordi (EVP, Bischofszell). Es könnten berufsübergreifende kostengünstige Klassen gebildet werden, widersprach Mitmotionärin Vietze.

IV senkt IQ-Grenze

Walter Hugentobler (SP, Matzingen) kritisierte, in der regierungsrätlichen Stellungnahme stünden zu viele Modalverben im Konjunktiv wie «könnte, sollte, würde». Die IV senke die IQ-Grenze immer weiter. Immer mehr Jugendliche fielen durch die Maschen, ihnen müsse geholfen werden.

Der Leiter der Frauenfelder Sozialdienste Turi Schallenberg (SP, Bürglen) empfahl ein Ja zur Motion, um die Sozialhilfekosten zu schonen. «Wir können uns keine Jugendlichen leisten, die eine Ausbildung nicht machen, obwohl sie es könnten.»