Seit 2013 steht Zwangsheirat in der Schweiz unter Strafe. Im Kanton Thurgau sind die ersten beiden Urteile gefällt worden. Doch sie sind nur die Spitze des Eisbergs.
Silvan Meile
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Zerwürfnis in der Familie: Die Eltern einer Thurgauerin zwingen ihre Tochter, einen bestimmten Bräutigam zu heiraten. Sie haben einen Mann ausgesucht, der ebenfalls aus Sri Lanka stammt, dem Heimatland der Familie. Doch die Tochter will selber entscheiden, mit welchem Mann sie ihr Leben verbringt. Die junge, aber erwachsene Frau beugt sich nicht. Sie bricht mit der Familie, reicht Strafanzeige ein. Schliesslich werden ihre Eltern von der Thurgauer Justiz wegen versuchter Zwangsheirat verurteilt. Es ist ein schweizweit erster Fall.
Seit Juli 2013 ist das Bundesgesetz über Massnahmen gegen Zwangsheiraten in Kraft. Bis Ende 2015 kam gemäss Bundesamt für Statistik der entsprechende Artikel 181a des Strafgesetzbuches erst zweimal zur Anwendung bei einer Verurteilung – beide Male im Thurgau. «In den letzten drei Jahren ermittelte die Kantonspolizei Thurgau in vier Fällen wegen Verdachts auf Zwangsheirat», schreibt die Thurgauer Regierung in der Beantwortung der Einfachen Anfrage «Kinder- und Zwangsehen im Thurgau» von SVP-Kantonsrat Pascal Schmid aus Weinfelden. Bei allen Opfern habe es sich um erwachsene Personen gehandelt. In zwei Fällen kam es offenbar zu einer Verurteilung. «Die mit Strafbefehl ausgesprochenen Strafen lagen zwischen 90 und 120 Tagessätzen Geldstrafe. Dies jeweils verbunden mit einer Busse», sagt Stefan Haffter, Mediensprecher der Thurgauer Staatsanwaltschaft. Zwangsheirat ist ein Offizialdelikt, muss von Amtes wegen verfolgt werden. Wer jemanden durch Gewalt oder Drohung nötigt, eine Ehe einzugehen, wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft. Liegt eine Straftat wegen Zwangsehe vor, muss das zuständige Strafgericht seit dem 1. Oktober 2016 aufgrund der Umsetzung der Ausschaffungs-Initiative auch eine obligatorische Landesverweisung prüfen, schreibt der Regierungsrat in der Beantwortung eines Vorstosses der Weinfelder EDU-Kantonsrätin Marlise Bornhauser, die ebenfalls zu diesem Thema Fragen einreichte.
Dass die ersten beiden Urteile gestützt auf Artikel 181a im Thurgau gefällt wurden, dürfte gemäss der schweizweit tätigen Fachstelle Zwangsheirat ein Zufall sein. Auch wenn dort immer wieder Personen aus dem Thurgau beraten werden, wie Präsidentin Anu Sivaganesan sagt, sind solche Fälle in Kantonen mit grösserer Zuwanderung wahrscheinlicher. «Es sind Leute mit Migrationshintergrund, die Hilfe suchen, weil ihre Familie für sie einen Ehepartner auswählt.» Es gehe dabei um die Wahrung von Tradition, Patriotismus oder Sexualitätsnormen.
Bei Thurgauer Fachstellen liegt das Thema selten auf dem Tisch. Pro Jahr fänden nur vereinzelte Gespräche zu Zwangsehen statt, sagt Elisabeth Rietmann, Geschäftsleiterin der Fachstelle Opferhilfe Thurgau. «Wir zeigen die rechtlichen Möglichkeiten auf.» Wer den Vorwurf erhebt, bricht mit der Familie und muss in der Regel sein Leben komplett neu organisieren. «Einige erschrecken, wenn sie sich der Konsequenzen bewusst werden», sagt Ilona Swoboda, Leiterin der Beratungsstelle für gewaltbetroffene Frauen Thurgau. Wegen der einschneidenden Folgen finden sich Opfer von Zwangsheirat teilweise auch mit ihrem Schicksal ab. «Sie müssen abwägen, was schwerer wiegt.»
«Das Strafrecht erfasst nur die Spitze des Eisbergs», sagt Schmid. Mit der Beantwortung seiner Anfrage ist der Bezirksgerichtspräsident nur teilweise zufrieden. Vor allem bei Ehen, die im Ausland geschlossen und später in der Schweiz anerkannt werden, befürchtet er «eine riesige Dunkelziffer». Das Migrationsamt sowie das Amt für Handelsregister und Zivilstandswesen müsse da genauer hinschauen.
«Die Verweigerung der Anerkennung einer im Ausland geschlossenen Ehe wegen des Verdachts auf Zwangsheirat war bislang nicht notwendig», schreibt der Regierungsrat. Schmid wiederum sagt: «Wenn man nicht genau hinschaut, sieht man es auch nicht.»