In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren in der Ostschweiz über 18 000 Handstickmaschinen in Betrieb. Auf einer der letzten arbeitet Bruno Hollenstein aus Wiezikon – aus Liebe zum Handwerk.
WIEZIKON. St. Galler Spitzen sind nach wie vor beliebt. Chanel, Dior und Armani verzichten ebenso wenig auf sie wie die amerikanische First Lady Michelle Obama oder die Ehrendamen des Eidgenössischen Musikfestes in St. Gallen. Auch wenn die filigranen Spitzen heute mit computergesteuerten Stickautomaten hergestellt werden, ein paar wenige Handsticker gibt es noch in der Ostschweiz. Einer von ihnen, Bruno Hollenstein, gewährte einen Einblick in sein Stickatelier. Fast zärtlich fahren seine Hände über die gerundeten Eisenteile, die Kurbeln und Räder seiner Handstickmaschine. «Diese alte <Benninger Uzwil> stammt aus den Jahren vor 1890 und stand bei meiner Tante in Mühlrüti», erzählt der 69-Jährige. Oft sei er unter dieser Maschine gehockt und habe zwischen den Handreichungen in einem Lexikon gelesen.
Zu Hause, in der Toggenburger Handstickerfamilie, gab es weder Bücher noch Zeit, und lesen galt als Zeitverschwendung. Und schon ist er mittendrin im Erzählen, wie es war, als er mit fünf Geschwistern Mitte des 20. Jahrhunderts aufwuchs, in einem Haushalt, wo der Vater den Lebensunterhalt für die achtköpfige Familie mit Handsticken verdiente und die Mutter nebenher den Volg-Laden führte. Arm seien sie alle gewesen, doch Hunger, nein, das kannte er nicht. Auch wenn ihm der Wurstring, der immer in der Stickerstube hing, noch heute präsent ist.
Nach der Schule mussten die Kinder an die Arbeit. Hin und her seien sie gerannt und mussten rasch rufen, wenn ein Faden gerissen war oder eine Nadel kaputtging. Der Vater stoppte dann das Sticken und der Schaden musste behoben werden. Bezahlt wurden die Sticker nach der Stichzahl, und fehlerhafte Ware gab Abzug. Auch wenn sie nicht viel hatten, stolz seien die Sticker immer gewesen. Sie fühlten sich als eigener Herr und Meister, produzierten sie doch Qualitätsspitzen für die weltbesten Modehäuser.
Vor vier Jahren, Hollenstein wurde pensioniert, starb seine Tante und für die Handstickmaschine hatte niemand mehr Verwendung. Er überlegte nicht lange, erfüllte sich einen Traum und baute das Erdgeschoss seines Hauses in Wiezikon zu einem Stickatelier aus. Er liess die Stickmaschine von Mühlrüti nach Wiezikon transportieren. Heute sei er glücklich, jeden Tag vor die Maschine zu sitzen – nicht zum Geldverdienen, zur Freude am Handwerk. Und fachmännisch erklärt er die logische Einfachheit der Stickmaschine am einfachen Stickrahmen, mit dem früher gegen 40 000 Stickerinnen ihren Lebensunterhalt verdienten. Wenn Hollenstein stickt, glaubt man, er habe dies zeitlebens gemacht. Doch weit gefehlt. «Sticken ist wie Autofahren, wer es einmal gelernt hat, der kann es auch nach Jahrzehnten noch.»