FRAUENFELD: Thurgauer Verbrecher sind brav

Fast jeder Häftling im Thurgau wird nach zwei Dritteln seiner Strafe bedingt entlassen. Das habe auch damit zu tun, dass hier weniger Schwerkriminelle einsässen. Die überfüllten Anstalten seien kein Grund.

Larissa Flammer
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Besteht keine ungünstige Rückfallprognose, hat ein Häftling das Recht, nach zwei Dritteln der Strafzeit entlassen zu werden. (Bild: Donato Caspari)

Besteht keine ungünstige Rückfallprognose, hat ein Häftling das Recht, nach zwei Dritteln der Strafzeit entlassen zu werden. (Bild: Donato Caspari)

FRAUENFELD. Im Thurgau werden schweizweit am meisten Häftlinge vorzeitig aus der Haft entlassen. 97 Prozent der Insassen dürfen nach zwei Dritteln der abgesessenen Strafe wieder in die Freiheit, während es in der Westschweiz im Schnitt nur 57 Prozent sind. Stephan Felber, Generalsekretär des kantonalen Departements für Justiz und Sicherheit, verweist dabei auf das Strafgesetzbuch: «Nachdem ein Häftling mindestens drei Monate oder zwei Drittel der Haftstrafe abgesessen hat, hat er Anspruch auf eine vorzeitige Entlassung.» Die bedingte Entlassung könne nur ausgesetzt werden, wenn eine ungünstige Rückfallprognose bestehe.

Dass in der Westschweiz die vorzeitige Entlassung deutlich öfter verweigert werde als im Thurgau, habe auch mit der Täterstruktur zu tun. «Im Thurgau haben wir weniger Schwerkriminelle als vermutlich in der Westschweiz. Die meisten Häftlinge verhalten sich in unseren Einrichtungen zudem gut», sagt Felber. Gemäss dem Amtsleiter für Justizvollzug, Silvio Stierli, könnte ein Unterschied auch darin liegen, dass sich der Kanton Thurgau als Grenzkanton mehr als andere Kantone mit Fällen von ausländischen Staatsangehörigen zu befassen habe. Gegen diese würden oft parallel zum Strafverfahren auch ausländerrechtliche Massnahmen angeordnet. Die bedingte Entlassung könne unter der Bedingung ausgesprochen werden, dass der Gefangene direkt ausgeschafft wird.

Mit den überfüllten Strafanstalten haben die vielen vorzeitigen Entlassungen im Thurgau nichts zu tun, wie Stierli betont. «Bei der bedingten Entlassung geht es ausschliesslich um die Gefahr eines Rückfalls.»

Kommission beurteilt gemeingefährliche Täter

Die Studie hat die Zahlen von 2009 bis 2013 erhoben. Gemäss den Autoren ist eine zunehmend restriktivere Handhabung der bedingten Entlassungen in allen Kantonen zu beobachten. Sehr deutlich sei das im Kanton Aargau zu beobachten. Die bedingten Entlassungen seien dort von 87 Prozent im Jahr 2013 auf 53 Prozent im Jahr 2015 gesunken, wie die Sendung «10 vor 10» berichtete. Das habe unter anderem damit zu tun, dass der Mörder des Au-pair-Mädchens Lucie ein Wiederholungstäter war.

Felber kann sich an keinen ähnlichen Fall im Thurgau erinnern. «In einem Fall haben wir die bedingte Entlassung nicht zugelassen, doch als der Mann nach dem Ende der Haftstrafe freikam, passierte etwas. Da hatten wir ein gutes Bauchgefühl.» In der Ostschweiz sei eine Fachkommission für die Beurteilung gemeingefährlicher Täter zuständig. «Wir sind meist der Empfehlung dieser Kommission gefolgt und damit immer gut gefahren», sagt Felber. Eine hundertprozentige Sicherheit, dass ein Verurteilter nicht rückfällig wird, gibt es aber laut Silvio Stierli nie. Bedingt Entlassene seien aber sowieso nicht völlig frei. «Oft werden einschneidende Massnahmen angeordnet, wie beispielsweise die Weiterführung einer Therapie, Bewährungshilfe oder regelmässige Urinproben.»

Die Autoren der Studie zu den bedingten Entlassungen sprechen eine Rechtsungleichheit an, wenn in der Westschweiz Kriminelle viel öfter die ganze Strafe absitzen müssen als in einem Kanton in der Deutschschweiz. Sie fordern daher eine Harmonisierung der Praxis. «Da bin ich ein Gegner», sagt Felber. Der Strafvollzug sei Sache der Kantone. Man müsse vor allem das bestehende Gesetz anwenden und nicht bei jedem negativen Vorfall Anpassungen fordern. «Jeder, der sich ungerecht behandelt fühlt, kann Rechtsmittel erheben», fügt Stierli an. «Das Bundesgericht hat sich schon einige Male zur Frage der bedingten Entlassung geäussert.»