Der Thurgau entschädigt ein Verdingkind

Die Hartnäckigkeit eines ehemaligen Verdingkinds hat sich gelohnt. Renata Nydegger aus Diessenhofen hat auf der Suche nach ihrer Geschichte Hinweise auf ein verschwundenes Sparheft gefunden, das einst ihr gehörte. Der Regierungsrat überweist ihr 18 000 Franken.

Thomas Wunderlin
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Renata Nydegger Ehemaliges Verdingkind (Bild: pd)

Renata Nydegger Ehemaliges Verdingkind (Bild: pd)

FRAUENFELD. Noch am 5. Januar habe sie vom Thurgauer Staatsarchiv den Bescheid erhalten, es seien keine weiteren Akten mehr da, erzählt Renata Nydegger. Sie akzeptiere das nicht, habe sie geantwortet. «Zwei Tage später habe ich ein Couvert mit 81 Seiten bekommen.» Darin fand die 73jährige ehemalige Souffleuse einen weiteren Hinweis auf ihr verschwundenes Sparheft.

Der Vater des ehemaligen Verdingkinds hatte auf ein Konto der Thurgauer Kantonalbank monatlich 40 Franken einbezahlt. Die erste Spur davon fand Nydegger im August 2014 in Akten, die sie vom Staatsarchiv erhielt. Das Waisenamt hatte gemäss seinen Protokollen Nydeggers Mutter am 2. Februar 1953 angewiesen, das Sparheft auf dem Waisenamt-Notariat zu deponieren. Bei Volljährigkeit ihrer Tochter solle es dieser übergeben werden.

Wie Nydegger nun aus den neu aufgefundenen Akten weiss, deponierte ihre Mutter das Sparheft tatsächlich auf dem Waisenamt. Gestützt auf die neue Spur, hat sich Nydegger an den Regierungsrat gewandt. Dieser hat sie daraufhin in einem Schreiben um Entschuldigung gebeten und ihr 18 000 Franken überwiesen.

Mit Zins und Zinseszins

Die Summe entspricht dem leicht aufgerundeten Betrag, der aus den 3525 Franken, die 1953 auf dem Sparheft lagen, mit Zins und Zinseszins bis heute geworden wären. Damit zahlt laut «Blick» erstmals ein Schweizer Kanton einem Verdingkind sein Geld zurück. Den Tag, an dem sie die Post des Regierungsrats erhielt, bezeichnet Renata Nydegger als «Glückstag». Das Thema Sparheft sei für sie erledigt. Sie hoffe, ihr Beispiel öffne auch andern Verdingkindern einen Weg. Es habe sich gelohnt, hartnäckig zu bleiben. Sie selber sucht weiter nach Akten. Noch immer weiss sie nicht, weshalb sie im Alter zwischen sieben und zwölf nach Schaffhausen verdingt wurde. Ihre Mutter hat es ihr nie gesagt. Beim Waisenamt, wo sie als 27-Jährige erstmals nachfragte, wurde sie abgewimmelt.

Regierungsrat Claudius Graf-Schelling begründet die Zahlung damit, dass das Sparheft nie Eigentum des Kantons gewesen sei. Renata Nydegger habe Anspruch darauf. Der Regierungsrat berufe sich nicht grundsätzlich auf Verjährung, wenn jemand Unrecht erlitten habe. Er schaue den Einzelfall an: «Aus unserer Sicht hat der Fall aber keinen präjudiziellen Charakter.» Es stehe fest, dass das Sparheft am 1. April 1953 auf dem Waisenamt deponiert worden sei. Wo es nachher hingekommen sei, dazu fänden sich in den Akten des Waisenamts im Widerspruch zu den damaligen Vorschriften keine Hinweise: «Über den Abgang hätte es einen Beleg geben müssen.» Der Kanton steht laut Graf-Schelling in der Verantwortung, da der Diessenhofer Waisenamtssekretär ein Kantonsangestellter war. Es handelte sich um den Diessenhofer Notar. Der Kanton habe ihn als Sekretär des Waisenamts delegiert: «Er hatte eine verantwortliche Stellung.» Das Waisenamt war eine Behörde der Stadt Diessenhofen. Erst mit der Einführung der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörden 2013 wurde das Vormundschaftswesen Kantonsaufgabe.

Ob der Notar das Sparheft veruntreute, dazu nimmt Graf-Schelling keine Stellung: «Wir wollen niemanden beschuldigen. Vielleicht ging das Dokument auch einfach verloren.»

Für die langwierige Aktensuche Renata Nydeggers zeigt Graf-Schelling Mitgefühl: «Das war mühsam für sie.» Danach sei es aber schneller gegangen. Am 9. Februar habe sich Nydegger an den Regierungsrat gewandt. Bereits zwei Tage später habe dieser beschlossen, sie zu entschädigen. Das sei möglich gewesen, sagt Graf-Schelling, weil er zuvor schon vom Staatsarchiv direkt einen Hinweis erhalten habe, «wofür ich sehr dankbar bin».

Keine ähnlichen Forderungen

Der Kanton habe bereits vor einigen Jahren die Akten der Vormundschaftsbehörden eingeholt. Dadurch könne er sich jetzt entlasten oder Ansprüche erfüllen, «wenn etwas nicht ganz konform gelaufen ist». Der Thurgau befinde sich diesbezüglich schweizweit in einer guten Position, wie er inzwischen festgestellt habe.

Von ähnlichen Forderungen anderer ehemaliger Verdingkinder sei ihm nichts bekannt, sagt Graf-Schelling. Der Regierungsrat hat bereits im September 2011 offiziell alle um Entschuldigung gebeten, die im Thurgau «als Verdingkind eine schwer belastete Kindheit und Jugendzeit erlebt haben».