Heimweh verspürt er keines mehr – dafür ist er schon zu lange weg. Andreas Preisig lebt seit 37 Jahren in Bolivien und führt dort eine Stiftung für Entwicklungsprojekte. Der Thurgauer ist zum Bolivianer geworden und trotzdem irgendwie Schweizer geblieben.
LA PAZ. Alles begann mit einem einfachen Stelleninserat. 1979 suchte die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) Leute, welche bei der Wiederaufforstung der Anden-Vorgebirge in Bolivien mithelfen wollten. Andreas Preisig, 25, Förster, Bauernsohn aus dem Thurgau, dem sein Forstrevier in Oberdorf SO zu eng geworden war, meldete sich. «Ich wollte ein Abenteuer erleben.» Das war vor 37 Jahren. Preisig ist geblieben – bis heute. «Wenn man die Augen aufmacht, ist es halt schon wahnsinnig schön hier.»
Er arbeitete in der bolivianischen Stadt Cochabamba, dann in Peru im Anden- und Amazonasgebiet, bis es wegen der Guerilla zu gefährlich wurde. Kehrte zurück nach Bolivien, half bei verschiedenen Entwicklungsprojekten mit und baute dazwischen eine Schreinerei auf. Nach sechs Jahren hatte der Thurgauer genug davon. «Die Leute waren nicht zuverlässig genug.» Seit 2005 leitet er nun die bolivianische Stiftung Fautapo. Deren Projekte sind vielfältig: Junge Frauen und Männer profitieren von technischen Berufsausbildungen, einheimische Bauern bekommen Hilfe, damit sie ihre Produktion steigern könne, lokale Kleinunternehmen werden gefördert. Alle Projekte haben ein gemeinsames Ziel: das Leben der Menschen in Bolivien nachhaltig zu verbessern. Hier liege jedoch genau die grosse Herausforderung, sagt Preisig. «Wasser aus irgendeinem Brunnen zu pumpen, ist technisch einfach lösbar. Schwieriger ist es, den Menschen beizubringen, 20 bis 30 Jahre in die Zukunft zu schauen.»
Dafür spult Preisig pro Woche Tausende Kilometer ab, besucht Bauern in den Anden, indigene Völker im Grenzgebiet zu Argentinien oder Quinoa-Anbauer auf 4000 Meter Höhe. Gebiete, die nicht durch eine Autobahn erschlossen sind, sondern auf deren Strasse Preisig gelegentlich Bretter auslegen muss, damit er nicht in die tiefen Löcher hineinfährt. Ihm gefällt's. «Immer noch ist jeder Tag ein Abenteuer.»
Der Frauenfelder Alfred Müller heftete sich kürzlich für zwei Wochen an Preisigs Fersen, um dessen Schaffen zu beobachten. «Ein Naturtalent von einem Chef», sagt Müller. «Und ein begnadeter Praktiker.» Preisig sei ja schon ein halber Bolivianer, und trotzdem habe er das eigene Team auf schweizerische Pünktlichkeit getrimmt.
Als Manager der Stiftung muss der Bruder des ehemaligen PH-Rektors Ernst Preisig auch schauen, dass seine 250 Mitarbeiter ihren Lohn bekommen. Dafür braucht es Spenden. Die kommen aus Schweden, Japan, Kanada, der Schweiz. «Wer Geld gibt, will Resultate sehen», sagt Preisig. Bisher wurden 28 000 Frauen und Männer in den Berufsschulen ausgebildet – 84 Prozent davon fanden eine Stelle oder haben sich selbständig gemacht. Das sei ein solches Resultat. «Impact eben.» Wenn Preisig über Impact spricht, meint er auch individuelle Erfolgsbeispiele. Zum Beispiel das eines Bauern, der früher Kühe für einen reichen Grossgrundbesitzer hütete. Er war so arm, dass seine Frau sich scheiden lassen wollte, die Kinder schämten sich für ihn in der Schule. Heute ist der Mann Veterinärtechniker, glücklich verheiratet, und seine Kinder erzählen, ihr Vater sei Arzt.
Preisig hat selbst auch zwei Töchter. Aufgewachsen in Bolivien, leben sie jetzt in Genf. Kommt da selbst kein Heimweh auf? «Nein. Bolivien ist meine neue Heimat geworden.» Alle paar Jahre kommt er trotzdem zurück in den Thurgau, wohnt dann bei seinem Bruder auf dem Bauernhof oberhalb Bichelsee und staunt über die grosse Auswahl in unseren Supermärkten. Etwas vermisst er dennoch, wenn er mit seiner bolivianischen Frau von seiner Hacienda aus den Sonnenuntergang beobachtet: «Die langen Abende in der Schweiz fehlen mir.»