Ausschau nach der Heimat Thurgau

Oh Thurgau, du Heimat. Im Thurgauer Lied aus dem Jahr 1842 erscheint alles einfach. Welche Elemente aber 172 Jahre später die gemeinsame Heimat und Identität aller Thurgauer ausmachen, ist recht schwierig zu ergründen. Mit der Artikelserie «…du Heimat» will die Thurgauer Zeitung einen Versuch wagen. Von David Angst

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Jedes Mal ein erhebender Moment. Der Ausblick vom Arenenberg über den Untersee weckt bei vielen Thurgauern ein Heimatgefühl. (Archivbild: Donato Caspari)

Jedes Mal ein erhebender Moment. Der Ausblick vom Arenenberg über den Untersee weckt bei vielen Thurgauern ein Heimatgefühl. (Archivbild: Donato Caspari)

Wenn ein Märstetter, der im Ausland lebt, am 13. Januar einen Salziss (maskulin!) isst, so denkt er dabei wahrscheinlich an das Dorf, in dem er aufgewachsen ist. Wenn ein alter Arboner das Saurer-Museum besucht, so kommt in ihm möglicherweise eine gewisse Wehmut auf. Beide verspüren in diesem Moment etwas, das man Heimatverbundenheit nennen kann.

Heimat ist ein Ort, mit dem wir vertraut sind; ein Dorf, eine Stadt, eine Region oder ein Land. Dazu gehört alles, was wir mit diesem Ort – und nur mit ihm – in Verbindung bringen. Wer über diese Dinge schreibt oder liest, der betreibt Heimatkunde. Das tun Lokalzeitungen wie die Thurgauer Zeitung täglich, und zwar schon seit eh und je, ohne es aber zu deklarieren.

Nun soll eine Reihe von Artikeln genau dies tun: Sie soll Heimat erklären und das mit einem Signet gar hervorheben. Das Motto der Serie heisst, «…du Heimat», in Anlehnung an das Thurgauer Lied – und mit einem Gruss an den Weinfelder Journalisten Markus Schär, der vor 12 Jahren das Buch «Oh Thurgau» herausgab und damit das Seine zur Thurgauer Heimatkunde beitrug.

Die Thurgauer Zeitung ist selber ein Stück Heimat. Sie ist eines der verbindenden Elemente im Kanton. Sie hat sich deshalb zur Aufgabe gemacht, Identität zu stiften und abzubilden. So lange es nur darum geht, über die Groppenfasnacht zu berichten, über die Frauenfelder Salzisse (feminin!) oder über das Romanshorner Lokorama, ist das daily business. Auch eine schöne Landbeiz mit Gartenwirtschaft kann durchaus Heimatgefühle auslösen – aber eben lokal begrenzte.

Suche nach dem Verbindenden

Schwieriger ist es, Heimatmerkmale zu finden, die überall im Kanton gelten. Der Ermatinger Gropp ist dem Fischinger schnuppe. Diese Serie soll dazu beitragen, das Gemeinsame, das typisch Thurgauische zu finden. Sie kann möglicherweise Antworten liefern auf die Frage, was einen Bischofszeller und einen Diessenhofer verbindet, ausser der Tatsache, dass beide keine Zürcher, keine St. Galler, keine Schaffhauser und keine Deutschen sind. Zumindest aber soll sie ein buntes Mosaik aus Dingen ergeben, die Thurgauer Identität ausmachen.

Hütet euch vor Klischees

Heimat ist oft nicht das, was einem reflexartig als Erstes in den Sinn kommt. Und Heimat ist für die Einheimischen nicht unbedingt das, was die Auswärtigen dafür halten.

Die Bluemetrögli-Trachten-Schwingfest-Alpaufzug-Schwizerörgeli-Heimat jedenfalls hat mit dem Thurgau wenig zu tun, obwohl sie auch hier gepflegt wird. Allerdings bezeichnenderweise vor allem von den Appenzeller- und Bernervereinen. Solche gibt es überall. Thurgauervereine gibt es dagegen weder im Thurgau noch anderswo. Ein Verein der Thurgauer Studierenden an der HSG ist die Ausnahme.

Der Thurgauer des 21. Jahrhunderts ist, was Heimweh angeht, ein Pragmatiker. Ubi bene, ibi patria, ist sein Motto. Thurgauer Auswanderer sind keine ausgesprochenen Heimwehmenschen. Sie sind deshalb nicht weniger stolz auf ihre Herkunft, und einige lassen sich auf Hiläri gerne ein paar Salzisse schicken. Die Thurgauerin des Jahres 2013, Mona Vetsch, will – obwohl sie schon lange in Zürich wohnt – nicht als Heimwehthurgauerin bezeichnet werden, sondern als Thurgauerin.

Umgekehrt sind die Thurgauer viel offener für die Integration von Zuwanderern, als andere vielleicht annehmen. Thurgauer zu sein, schliesst nicht aus, gleichzeitig auch Berner zu sein, oder Zürcher oder Appenzeller. Thurgauer sein kann man auch, ohne dass man das Thurgauer Bürgerrecht hat oder den Ostschweizer Einheitsdialekt spricht. Ständerat Roland Eberle ist Bürger von Flums SG und spricht Zürcher Mundart. Ständerätin Brigitte Häberli ist ebenfalls im Kanton Zürich aufgewachsen und Bürgerin von Münchenbuchsee BE.

Die Geschichte hilft nicht viel weiter. Die Vergangenheit spielt in der Wahrnehmung der Thurgauer als identitätsstiftendes Element eine Nebenrolle. Sie beschränkt sich auf ein paar wenige Ereignisse: Auf die Schlacht bei Schwaderloh von 1499, auf die Befreiung aus der eidgenössischen Herrschaft 1798 und wenn es hochkommt auf die Zeit der Regeneration um 1830 herum. Der Thurgau gehörte nicht zur Eidgenossenschaft. Es ist deshalb geradezu grotesk, wenn sich einige Thurgauer als «Eidgenossen» bezeichnen, um sich von «eingebürgerten Ausländern» abzugrenzen.

Der Thurgauer ist kein spezieller Mensch. Das haben andere auch schon herausgefunden. Charakterlich unterscheidet er sich nicht vom Menschenschlag im Zürcher Weinland oder im St. Galler Fürstenland.

Ostschweizer Einheitsdialekt

Auch einen Thurgauer Dialekt gibt es nicht – wie es ihn übrigens auch vor 100 Jahren nicht gab. Der Unterschied: Damals gab es eine Vielfalt von unterschiedlichen Dialektfärbungen. Heute hört man in den meisten Teilen des Kantons einen Ostschweizer Einheitsdialekt, der sich nur marginal von dem unterscheidet, was zum Beispiel im angrenzenden St. Galler Raum gesprochen wird. Es ist schwierig geworden, einen Amriswiler von einem Frauenfelder oder von einem Uzwiler zu unterscheiden. Nachzulesen im Buch über die Thurgauer Mundart, das der Sprachwissenschafter Martin Hannes Graf diese Woche in der Kantonsbibliothek vorgestellt hat. Zum Trost: Es gibt auch keinen Aargauer, Solothurner oder Berner Dialekt, sondern recht verschiedene Dialekte, je nachdem, in welchem Zipfel dieser Kantone man sich befindet.

Andere haben ihre Heimatsymbole. Der Thurgau nicht. Er hat keine echte Stadt, kein Sechseläuten, keinen Zibelemärit, keine Fasnacht, keine Stiftsbibliothek, weder Matterhorn noch Rheinfall. Manche Thurgauerinnen besitzen zwar eine Tracht, aber sie zelebrieren darin keine Alpaufzüge. Es gibt Dutzende von lokalen Bräuchen, aber einen Anlass mit der Ausstrahlung eines Appenzeller Alpaufzuges haben wir nicht.

Das stört uns eigentlich nicht. Wir wissen ja, dass wir es schön haben. Es nervt uns höchstens manchmal ein ganz klein wenig, wie wir vom Rest der Schweiz wahrgenommen werden. Das hat nichts mit einem Minderwertigkeitskomplex zu tun. Weil der Kanton wie gesagt nicht mit den gängigen Sehenswürdigkeiten, Bräuchen und Klischees auftrumpfen kann, ist er bei manchen ein weisser Fleck auf der Landkarte. In Reiseführern über die Schweiz wird er kaum erwähnt.

Ein Beispiel von Fremdwahrnehmung stand am Montag in der Thurgauer Zeitung. Der Berner Kabarettist und Journalist Bänz Friedli, der es in seinem Leben immerhin schon bis nach Zürich geschafft hat, hat sich für seinen Auftritt in Amriswil mit Hilfe des Raps «Thurgau mini Heimat» vorbereitet. Ausgerechnet mit dem Lied, das Giaccobo und Müller zur Volksbelustigung verwenden. Verbieten können wir ihnen das ja nicht. Aber sie sollen bitte nicht von uns erwarten, dass wir darüber noch lachen.

Am alemannischen Bosporus

Der Thurgau gehört touristisch gesehen nicht zur Schweiz, sondern zu Deutschland. Sie stünden hier am «alemannischen Bosporus», erklärte kürzlich ein Konstanzer Reiseleiter auf dem Aussichtshügel der Insel Reichenau einer Gruppe von Touristen aus Frankfurt. Das sagt vieles. Der umfangreichste Reiseführer über den Thurgau umfasst 700 Seiten. Herausgegeben hat ihn der Reise-Idee-Verlag in Kempten D (Oberallgäu).

Und so geht nun also die Suche los nach dem Gemeinsamen, dem Verbindenden, dem Bedeutsamen. Das gibt es durchaus. Es gibt Orte oder Gebäude, die für den ganzen Kanton Symbolkraft haben. Das Wirtshaus zum Trauben in Weinfelden zum Beispiel, das Schloss Arenenberg oder die Kartause Ittingen.

Momente des Heimatgefühls

Und es gibt sie, die Situationen, in denen einem bewusst wird, dass man Thurgauer ist, die Momente, in denen man Heimatgefühl empfindet.

Wenn eine Blasmusik das Thurgauer Lied anspielt und man unaufgefordert aufsteht und mitsingt.

Wenn man im Frühling von einer Reise heimkommt und beim Anblick der Obstbäume innerlich zu jauchzen beginnt.

Wenn man Gästen aus Bern oder Basel stolz den Ausblick zeigt, den man vom Schloss Arenenberg aus hat.

Wenn man irgendwo an der Ostseeküste in einen Regionalzug einsteigt, der unverkennbar von Stadler Rail hergestellt worden ist.

Wenn man in einer Basler Bar ein Ittinger bestellen kann.

Wenn man in den Wein-Spalten grosser Zeitungen und in Fachmagazinen Loblieder auf die Güte des Thurgauer Pinot noir lesen kann.

Wenn man in irgendeiner Landbeiz noch Saft vom Fass (den echten, nicht aus der Flasche) trinken kann.

Wenn man sich darüber freut, dass der HC Thurgau mal wieder gewonnen hat.

Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und ein kleines Gefühl noch keine Heimat. Heimat ist eine Summe von Elementen. Sie ist wie ein süffiger Cocktail aus vielen Zutaten. Man darf gespannt darauf sein, welches die Essenzen sind, die zusammen die Thurgauer Identität ausmachen.

david.angst@thurgauerzeitung.ch