Ein Informatikstudent kämpft vor dem Thurgauer Obergericht gegen die kleine Verwahrung. Mit seiner Behinderung gewann er das Vertrauen der Mütter und verging sich an ihren Kindern.
Thomas Wunderlin
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Selten kommen Straftäter im Rollstuhl in den Obergerichtssaal. Der knapp 25-jährige bleiche Student, der einen Anzug und ein weisses Hemd trägt, wurde mit einem offenen Rücken geboren. Wie sein Anwalt und der Staatsanwalt, spricht er die Richter umständlich mit ihren Titeln an. Er formuliert auch so verklausuliert wie die Juristen. Wenn er in fünf Jahren aus der stationären Massnahme entlassen werde, die ihm das Bezirksgericht Arbon auferlegt hat, werde er ohne abgeschlossene Berufsausbildung dastehen: «Ich bezweifle, dass es mir noch gelingen wird, in der Gesellschaft Fuss zu fassen.»
Seine Bestrafung mit 27 Monaten Gefängnis akzeptiert er. Er will jedoch aus der sogenannten kleinen Verwahrung entlassen werden. Diese ist auf fünf Jahre befristet, kann aber mehrfach verlängert werden. Sein Verteidiger verlangt ihren Ersatz durch eine ambulante Massnahme. Ausserdem behauptet der Anwalt, dass FBI und Europol ohne unerlaubte Ermittlungsmethoden gar nicht die IP-Adresse des Studenten hätten identifizieren können. Eine «phishing expedition» führe auch in den USA zur Unverwertbarkeit der Beweise. Falls das Obergericht dem zustimme, sei auch das Geständnis unverwertbar. Das Obergericht wird sein Urteil schriftlich eröffnen.
Das Bezirksgericht hatte den Einwand abgelehnt mit Verweis auf die Rechtssprechung des Bundesgerichts. Dieses entschied in zwei neueren Fällen, die Schweizer Justiz dürfe davon ausgehen, dass Informationen ausländischer Geheimdienste verlässlich und Beweisabnahmen rechtmässig erfolgt seien.
Der Student hatte sich über Kinderhüte-Plattformen im Internet bei rund vierzig Familien als Babysitter angeboten, auch noch während des Strafverfahrens wegen Internet-Kinderpornographie. Dass er behindert war, trug dazu bei, dass ihm die Mütter vertrauten. Verurteilt wurde er in erster Instanz, weil er zwei Buben und einem Mädchen zwischen fünf und acht Jahren unter die Schlafanzüge griff. Das Bezirksgericht beurteilte sein Vorgehen als «abscheulich». Besonders «widerwärtig und alarmierend» sei, dass der Angeklagte zwei Kinder in sein Bett nahm und anfasste, als er sie im Schlaf wähnte. Einer der Buben traute sich danach nicht mehr, allein zu schlafen. Er fürchtete sich vor seinem Babysitter, weil er meinte, ihn verraten zu haben. Nach seiner Enttarnung war es dem Studenten noch gelungen, andere Nutzer einer Kinderporno-Plattform zu warnen, weshalb er auch wegen Begünstigung verurteilt worden ist.
Gemäss einer Gutachterin ist es wahrscheinlicher, dass er rückfällig wird, als dass er es nicht wird. Ohne stationäre Betreuung würde er aufgrund seiner guten IT-Kenntnisse Wege finden, sich im Darknet zu tummeln. Er würde möglicherweise versuchen, auf der Kinderporno-Plattform vom VIP- in den Herstellerstatus aufzusteigen. Dass er noch bei seinen Eltern wohne, ändere nichts daran. Als Informatikstudent könne er sich von ihnen unbemerkt im Internet bewegen. Die Gutachterin sah bei ihm keine «gefestigte Bereitschaft», mit seiner pädophilen Neigung gesetzeskonform umzugehen.
Vor Obergericht macht der Verteidiger geltend, der Student zeige «eine aktive Therapiebereitschaft» und bringe dabei selber Themen ein. Das Gutachten gehe zu wenig auf sein Verbesserungspotenzial ein.
Der Staatsanwalt bezweifelt, dass der Student einsichtig geworden sei. Sonst könne er ja die Verschlüsselung des vom Studenten gebauten Computerturms preisgeben, der seit zwei Jahren im Büro des Staatsanwalts stehe. Den Ermittlern ist es nicht gelungen, diese zu knacken. Im Computer könnte der Beweis liegen, dass der Student bereits selber Kinderpornos hergestellt hatte.