Nach langer Zeit lief beim Sieg gegen den FCZ ein Spiel wieder einmal für den FC St.Gallen. Dem Glück halfen die Spieler nach, indem sie nicht mehr à tout prix von der ersten Sekunde an wild nach vorne stürmten. Aber war das überhaupt gewollt? Eine Lehrstunde in Sachen Taktik.
Gymnasial- und Fussballlehrer Peter Zeidler hat einmal gesagt, dass im Fussball der taktische Aspekt überbewertet werde und im Grunde die Qualität der Spieler eher den Ausschlag gäbe. Dennoch will ich an dieser Stelle, und dann nicht mehr bis zur Winterpause, die Strategie des FC St.Gallen zum Thema machen und sie in einen Zusammenhang mit anderen Mannschaften bringen, die eine ähnliche Spielweise pflegen. Denn Zeidler versucht bis in die letzte Konsequenz etwas zu vermitteln, das für den FC St.Gallen aussergewöhnlich ist.
Das deutsche Sportmagazin «Kicker» hat über ihn unlängst geschrieben:
«Er ist der vielleicht interessanteste deutsche Trainer, der derzeit nicht in einer ganz grossen Liga ein Team betreut. Er ist ein Fussballbesessener, kommunikativ stark und beseelt von einer offensiven Spielphilosophie.»
Ich will nicht bei Adam und Eva beginnen, auch nicht beim WM-System der 1920-er Jahre, im Grunde das 3-4-3 (mit Raute im Mittelfeld) der modernen Ära. Ebenso wenig bei der ersten Form von Pressing, das in den 1980ern Ottmar Hitzfeld mit dem FC Aarau erfunden hat. Ich fange an mit dem konsequenten Gegenpressing, das vor wenigen Jahren Jürgen Klopp mit Borussia Dortmund angewandt hat. Ein Teil der Mannschaft soll weit vorne schon den gegnerischen Ballbesitz unterbinden, der andere mit der Abwehrlinie weit vorne nahe der Mittellinie verteidigen. «Hoch stehen» nannten das die Fachleute fortan.
Der Zweck: Rasche Balleroberung und der kurze Weg zum gegnerischen Tor sollen die Torproduktion markant erhöhen. Das gelang vorzüglich, und die Nachahmer liessen nicht lange auf sich warten. Die Folge waren grosse Spielermassierungen im Mittelfeld, viele Offsidevergehen, aber bei Entweichen oder gelungenem Gegenpressing auch prickelnde Strafraumszenen. Barcelona bot dann mit dem Tiki-Taka den Gegenentwurf mit Kurzpass-Kombinationen. Aber nicht mehr der schnelle, sondern der möglichst erfolgversprechende Abschluss waren gefragt, bei Verzicht auf weite Zuspiele und Weitschüsse. Allerdings trauten sich nur wenige Mannschaften diesen Ballbesitz-Fussball zu, später oft dazu missbraucht, Zeit verströmen zu lassen.
Es waren dann nicht zuletzt und vielleicht nicht zufällig Trainer italienischer Herkunft wie Carlo Ancelotti oder Roberto di Matteo, welche den totalen Fussball von Pep Guardiola zum Scheitern brachten. Gewann der Spanier mit Barcelona noch zweimal die Champions League, blieb ihm dies mit Bayern München und Manchester City bis heute versagt. Ancelotti liess Real Madrid defensiv, aber gleichzeitig mit drei rasanten Sturmspitzen agieren. Der Begriff dafür heisst heute schnelles Umschaltspiel.
Heute lässt sich feststellen, dass die meisten Trainer eine Mischung all der genannten Auffassungen einfliessen lassen. Gegenpressing, Mittelfeldmassierung, Catenaccio am eigenen Strafraum, schneller Konterfussball von weit hinten, langer Ballbesitz – all das ist nun situativ anzutreffen. Auch Jürgen Klopp bedient sich bei Liverpool inzwischen all dieser taktischen Instrumente. Es wäre ja auch ein Luxus, wenn er einen so schnellen Stürmer wie Mohamed Salah nicht auch von weit hinten lossausen liesse.
Die Mischung lässt sich wie beim indischen Curry etwas schärfer oder etwas fader würzen, etwas angriffiger oder vorsichtiger. Manchester City allen voran, aber auch Borussia Dortmund, Juventus Turin oder die Young Boys stehen momentan eher für Sturm und Drang. Manchester United, Schalke 04 oder Weltmeister Frankreich warten eher mal ab, was der Gegner tut.
St.Gallen orientiert sich an den mutigeren Teams. Wie sich das punktemässig auswirkt, ist noch nicht beantwortet. Am Spektakel fehlt es jedenfalls nicht, der Ausgang der Spiele ist oft bis zuletzt ungewiss. Gegen den FC Zürich war St.Gallen augenscheinlich bemüht, nicht mehr wie gegen Basel oder Lugano dem Gegner ins offene Messer zu rennen. Das funktionierte lange Zeit, mit nur je einer Chance auf beiden Seiten, dem fünften St.Galler Schuss an die Torumrandung in dieser Saison. Doch wagte sich danach die Mannschaft nur einen Schritt zu sehr in den Angriff, wurden die Zürcher Konter brandgefährlich.
Es war aber auffällig, wie St.Gallens Sturm nach der Pause plötzlich in Schwung kam. Natürlich Barnetta, aber auch Nassim Ben Khalifa entlasteten St.Gallens belagerte Abwehr enorm. Nun waren freie Räume da, die aber erst genutzt werden mussten. St.Gallen tat dies hervorragend und erweckte den Eindruck, eine hervorragende Kontermannschaft zu sein.
Nach dem 0:0 im Letzigrund vor wenigen Wochen hatte sich Zürichs Trainer Ludovic Magnin noch über den Auftritt seiner Mannschaft beschwert und den Gegner gelobt. Diesmal verhielt es sich umgekehrt. Zeidler sah «inhaltlich» noch viele Mängel und war angetan von Zürichs Stärke. Der FCZ hat seine Performance vor allem im Angriff enorm gesteigert, während St.Gallen seither von seiner klaren Linie etwas abgekommen ist. Konnte es bis zum Heimspiel gegen Lugano fast alle Partien in punkto Torgefahr mindestens ausgeglichen gestalten, befand sich Zeidlers Team seither stets im Chancenminus, auch gegen Zürich.
Offensichtlich hatte St.Gallens Coach am Sonntag doch etwas mehr erwartet als nur die Spielkontrolle in der ersten halben Stunde. Aber eben, man kann den Gegner so auch etwas einschläfern und ihn dann mit einem Kunstschuss der Marke Vincent Sierro überraschen.
Jetzt klingelt’s wieder, aber nicht in Zürichs Kasten, sondern im Klassenzimmer. Ende der Schulstunde.
Mit dem Sieg gegen den aktuell hoch fliegenden FC Zürich ist der FC St.Gallen stark in die aufregende englische Woche gestartet. Leer wird er also nicht ausgehen. Und die Spannung erreicht ihren Höhepunkt am Donnerstag im Cupmatch gegen Sion. Peter Zeidler und Vincent Sierro begegnen ihrem Ex-Verein auf brisanter Ebene. Denn für Sion und dessen Präsidenten Christian Constantin ist der Cup wichtiger als die Meisterschaft. Doch auch der FC St.Gallen strebt vehement und aktuell prioritär den Cupfinal im Wankdorf an. Und nicht zuletzt hat der Yakin-Clan mit Trainer Murat Yakin und Assistent Marco Otero ins Wallis gewechselt. Bleibt zu hoffen, dass sich die Arena Kybunpark nicht überhitzt und bei aller Ambition die Akteure kühlen Kopf bewahren. Möglicherweise gewinnt auch jene Mannschaft, der das besser gelingt. Am Sonntag folgt dann im Stade de Tourbillon die Revanche in der Super League.
Ein besonderes Thema ist beim FC St.Gallen Tranquillo Barnetta. Am liebsten würde er von Beginn weg spielen. Die Krux: Er hat sich zweimal für Einwechslungen nach der Pause empfohlen. Zeidler belohnte ihn nach dem GC-Match mit der Nomination für die Startformation gegen Basel, Barnetta blieb aber blass. Umgekehrt konnte er in Lugano auch als Joker keine Wende mehr einleiten. Die von Anhängern heiss diskutierte Frage wird intern kaum zum Streitfall. Barnetta akzeptiert Zeidlers Entscheide ritterlich, und der Trainer selber macht ohnehin nur das, was er für richtig hält. Mein Tipp: Barnetta brennt am Donnerstag wieder auf die Einwechslung. (th)