Nur wenige Mütter im Kanton St.Gallen arbeiten Vollzeit und viele mit einem Pensum unter 50 Prozent. Mit dem Ausbau der Kinderbetreuung will der Kanton mehr Frauen für höhere Pensen gewinnen. Doch die Gründe für Teilzeit sind vielfältig.
Potenzial – dieses Wort fällt jedes Mal, wenn von Frauen auf dem Arbeitsmarkt die Rede ist. Auch die eben veröffentlichte Kurzstudie der Industrie- und Handelskammer St.Gallen-Appenzell (IHK) trägt den Titel «Erwerbstätigkeit von Frauen: noch viel Potenzial». Die Erwerbsquote von Frauen in der Ostschweiz liege zwar leicht über dem Schweizer Mittel mit knapp 60 Prozent, aber weit unter der von Männern mit 85 Prozent. Der Grund: Teilzeit, insbesondere bei Müttern. Eine Infras-Analyse vom März 2017 im Kanton St.Gallen ergab, dass 10 Prozent der Männer und 60 Prozent der Frauen Teilzeit arbeiten.
«Bis die Kinder aus dem Primarschulalter draussen sind, wollen die meisten Ostschweizerinnen maximal 40 bis 60 Prozent arbeiten», sagt Corinne Indermaur, Geschäftsführerin der Familienplattform Ostschweiz. Sie macht dafür zu Teilen den Mangel an Plätzen für die Kinderbetreuung verantwortlich, insbesondere im schulergänzenden Bereich. Pro hundert Kinder gibt es im Kanton St.Gallen sechs Vollzeitplätze. Der Kantonsrat hatte die Regierung damit beauftragt, einen Bericht zur familien- und schulergänzenden Kinderbetreuung im Kanton zu erarbeiten – wegen des Potenzials von Frauen in Zeiten des Fachkräftemangels. Gestern teilte die vorberatende Kommission mit, dass sie den Bericht unterstützt. Er wird in der Novembersession in einziger Lesung beraten.
Sind die Kinder grösser, würden viele Mütter gerne auf 60 bis 80 Prozent aufstocken, sagt Indermaur. Doch das gehe nur in seltenen Fällen, da es in diesen Stellenprozenten an Jobangeboten fehle. Gemäss Bundesamt für Statistik sind sieben Prozent der Erwerbstätigen in der Schweiz unterbeschäftigt. Sie würden ihr Pensum gerne aufstocken, können aber nicht. Bei den Frauen erreicht die Quote fast zwölf Prozent, bei den Männern vier. «Mehr als bekannt» seien ihr solche Fälle, sagt Barbara Gysi, Präsidentin des Kantonalen Gewerkschaftsbunds St.Gallen. Gerade in der Reinigung würden Frauen in Kleinstpensen und an mehreren Arbeitsstellen arbeiten, dennoch sei ihr Einkommen sehr knapp. Bei privaten Spitexorganisationen und im Detailhandel gebe es weitere Beispiele. Bei Tiefpensen gehe es immer auch darum, dass Arbeitgeber Beiträge für die zweite Säule einsparen.
Gudrun Sander, HSG-Professorin und Expertin für Gender- und Diversity-Management, meint, Frauen könnten es sich immer weniger leisten, nicht oder nur wenig zu arbeiten.
«Die Scheidungsrate ist um die 50 Prozent, die Altersvorsorge vieler Frauen prekär und der Wiedereinstieg nach einem Erwerbsunterbruch für viele Frauen nicht einfach.»
Die neueste Rechtsprechung zeige, dass von Frauen mit kleinen Kindern im Scheidungsfall immer früher erwartet wird, wieder eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Derzeit sei der Anreiz aber stark zu Gunsten eines Modells, in dem der Mann Vollzeit und die Frau in kleinen Pensen arbeite. Die einkommensabhängige Subventionierung der Kinderbetreuung und ein Steuersystem, das keine Individualbesteuerung zulasse, führe zu einem kleinen Anreiz, dass beide Eltern Vollzeit oder in hohen Pensen arbeiten. Und viele Frauen arbeiten in schlechter bezahlten Jobs als Männer.
Neben ökonomischen Gründen führt Sander die geschlechterspezifische Rollenerwartung an, die in der Ostschweiz sehr ausgeprägt sei. Auch Indermaur sagt: «Mütter sind gerne Mütter.» Sie wollen diejenigen sein, die ihren Kindern Wertvorstellungen vermitteln und mit ihnen Zeit verbringen. Männer hingegen würden – wenn überhaupt – auf 90 Prozent reduzieren. Dieses Denken sei in der Ostschweiz sehr ausgeprägt. «Wenn ich mit Müttern Gespräche führe, die Vollzeit arbeiten wollen, sind das in der Regel Deutsche, manchmal auch Französinnen. Sie sind der Arbeit wegen in die Schweiz gekommen und wollen mit Kindern weiter Vollzeit arbeiten.»
Der Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, Valentin Vogt, sagte vergangene Woche im «Tages-Anzeiger», dass Pensen unter 60 Prozent keinen Sinn machten. Er forderte Mütter auf, ihre zu erhöhen. Sein Argument: Viele Tätigkeiten würden nicht am Ende eines Arbeitstages enden, Kunden und Projekte müssten weiterbetreut werden. Gudrun Sander entgegnet hier: Das Pensum ist von der Aufgabe abhängig. Wichtiger als das Pensum sei die Flexibilität – auf beiden Seiten. «Wenn Mütter sagen, sie können nur Dienstag- und Mittwochvormittag sowie Donnerstagnachmittag arbeiten, wird es besonders in qualifizierten Jobs schwierig.»
Was ist das beste Modell für Familien? «Das ist eine Frage der Perspektive», meint Sander und eröffnet vier.
«Aus einer langfristigen, ökonomischen Perspektive der Frauen ist ein hohes Arbeitspensum sinnvoll, weil sie sich so Karrieremöglichkeiten offenhalten und mehr verdienen.»
Aus einer kurzfristigen ökonomischen Perspektive der Familie mache im Moment aufgrund staatlicher Anreize das Zuverdiener-Modell Sinn: Mann Vollzeit und Frau kleines Pensum. Aus pädagogischer Perspektive mache eine verlässliche und qualitative hochwertige Kinderbetreuung Sinn, die durch Eltern, Krippen und andere professionelle Betreuungsinstitutionen sichergestellt werden kann. Und aus soziologischer Sicht ein Machtausgleich zwischen Frauen und Männern: partnerschaftlich für das Familieneinkommen und die Betreuungsarbeit zu sorgen.
Das Angebot der familien- und schulergänzenden Kinderbetreuung im Kanton St. Gallen ist unterdurchschnittlich. In ihrem Bericht präsentiert die Regierung Massnahmen und Handlungsempfehlungen in acht Bereichen:
Handreichung an Gemeinden: Das Amt für Soziales unterstützt und berät die Gemeinden bei Anfragen. Handreichungen sollen überarbeitet und ausgeweitet werden.
Förderung von Tagesstrukturen: Ein Gesetzesentwurf zur Verankerung einer Bereitstellungspflicht für schulergänzende Tagesstrukturangebote im Volksschulgesetz soll erarbeitet werden. Mit Gemeinden und Fachorganisationen soll der Kanton die Situation im Bereich der Tagesfamilien analysieren und Massnahmen entwickeln.
Sensibilisierung: Um Vorbehalte gegenüber Kitas, Horten und Tagesfamilien abzubauen, will die Regierung stärker sensibilisieren. Der Kanton habe bei der Vereinbarkeit eine Vorbildfunktion inne und entwickle seine Personalpolitik in diese Richtung weiter.
Neue Finanzhilfen des Bundes: Der Kanton soll bestehende und geplante Subventionsbeiträge für die familien- und schulergänzende Kinderbetreuung der Gemeinden eruieren. Der Bund gewährt seine Unterstützung für Kantone und Gemeinden, die Subventionen nachhaltig ausbauen, ausschliesslich den Kantonen. Erhöhen Gemeinden ihre Subventionen, unterstützt der Kanton sie gemäss Bericht mit Finanzhilfen des Bundes.
Schwelleneffekte senken: Bedarfsleistungen und Steuern sind gemäss Bericht so auszugestalten, dass keine Fehlanreize bestehen und sie die Erwerbsarbeit von Eltern fördern.
Qualität von Praktika sichern: Um die Qualität der Betreuung sicherzustellen und «Pseudo-Praktika» zu vermeiden, soll die Aufsichts- und Kontrolltätigkeit in diesem Bereich verstärkt werden.
Monitoring: Der Kanton soll alle vier Jahre ein Monitoring über das Angebot an familien- und schulergänzenden Betreuungsangeboten in den Gemeinden durchführen, um einen Überblick über die Entwicklungen zu erhalten.
Subventionierung erhöhen: Die Regierung lädt den Kantonsrat ein, ihr den Auftrag zu erteilen, eine Beteiligung der Arbeitgeber an der Mitfinanzierung des familien- und schulergänzenden Betreuungsangebots zu erarbeiten – als Gegenvorschlag zur Familien-Initiative. Dass die Bereitstellung des Betreuungsangebots Sache der Gemeinde ist, habe sich bewährt. Die Gemeinden sollen allerdings ihre Subventionen erhöhen.
Die vorberatende Kommission unterstützt den Bericht. Über das Monitoring habe sie lange diskutiert, sagt Michael Götte, Kommissionspräsident und SVP-Kantonsrat. Alle vier Jahre würden dafür 40'000 Franken anfallen. Für die Bestandsaufnahme zur Subventionierung rechnet die Regierung mit 36'000 Franken, für die Prüfung der Verpflichtung der Arbeitgebenden mit 40'000 Franken. (kbr)