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Ostschweiz
War die Klimawahl eine Generationenwahl? Wie wichtig ist der Listenplatz? Weshalb war die Wahlbeteiligung tief? Antworten zum Wahlsonntag.
Erdrutschsieg. Grünrutsch. Grüner Tsunami. Die Medien fanden deutliche Metaphern für den Wahlsieg der Ökoparteien am Sonntag. 17 Sitze gewannen die Grünen im Nationalrat, 9 die GLP. In Anbetracht der aktuellen Umweltdebatte überrascht dieses Ergebnis höchstens in seiner Deutlichkeit. Überraschend ist allerdings, dass trotz Klimawahl und Frauenstreik dieses Jahr weniger Leute an die Urne gingen als vor vier Jahren. Schweizweit ist die Wahlbeteiligung bei den Nationalratswahlen gegenüber 2015 um 3,4 Prozentpunkte auf 45,1 Prozent gesunken. Unterdurchschnittlich tief war sie in der Ostschweiz – mit einer Ausnahme. Die wichtigsten Fragen und Antworten aus Ostschweizer Perspektive im Nachgang zur Wahl.
Politikwissenschafter Silvano Moeckli: «Die Klimadiskussion hat weniger emotionale Sprengkraft entwickelt als die Flüchtlingskrise, die vor vier Jahren die Diskussion vor der Wahl dominierte.» Die Flüchtlingsthematik sei für viele Wähler greifbarer gewesen als der Zustand des Weltklimas. «Flüchtlinge stehen an der Grenze. Das Weltklima aber ist etwas Abstraktes.» Hauptsächlich sind SVP-Wähler der Urne ferngeblieben. Das zeigt sich auch im Kanton St.Gallen. Das beste Resultat aller Nationalräte erreichte Lukas Reimann mit 51584 Stimmen. Bereits vor vier Jahren konnte er am meisten Stimmen auf sich vereinen – allerdings über 20000 mehr als am Sonntag (71892). Einen anderen Aspekt für die tiefe Wahlbeteiligung führt Politologe Clau Dermont von der Universität Zürich gegenüber der «Südostschweiz» ins Feld. Der Umstand, dass so viele Kandidaten wie noch nie für den Nationalrat kandidierten, könne Wähler abschrecken.
Bei den Nationalratswahlen hat die Stimmbeteiligung im Kanton St.Gallen gegenüber der Wahl 2015 um 4,6 Prozentpunkte auf 41,9 Prozent abgenommen. Im Thurgau um 4,2 Punkte auf 42,4 Prozent. In Appenzell Ausserrhoden betrug sie 41,3 Prozent, 5,8 Prozent weniger als vor vier Jahren. Umgekehrt ist das Bild in Appenzell Innerrhoden. Hier stieg die Beteiligung um 12 Punkte auf 48,7 Prozent. Bei den Ständeratswahlen lag die Wahlbeteiligung jeweils leicht darüber. Das sei typisch, sagt Moeckli. «Bei Ständeratswahlen wählt man Personen, keine Listen.» Ständeratswahlen seien somit oft Zugpferd für Nationalratswahlen. «In St.Gallen fehlte das Kopf-an-Kopf-Rennen im Ständerat.» Zeichne sich ein solches ab, gingen mehr Leute an die Urne, so Moeckli. Insgesamt verzeichnen Thurgau und St.Gallen seit 1999 eine konstant unterdurchschnittliche Stimmbeteiligung bei Nationalratswahlen. Das liesse sich mit der Bevölkerungszusammensetzung und Mentalitäten erklären. Ob jemand an die Urne gehe, hänge mit Faktoren wie Bildungsgrad und Einkommen zusammen.
Zu diesem Schluss kommt Michael Hermann, Leiter der Forschungsstelle Sotomo, aufgund der Nachwahl-Befragung der SRG. «Bei den jungen Wählern sind die Grünen neu die stärkste Partei», sagte er gegenüber SRF. Von den 18- bis 25-Jährigen haben gemäss dieser Umfrage 21 Prozent die Grünen gewählt, 17 Prozent die SVP, 14 Prozent die GLP. Mit dem hohen Anteil junger Stimmen am grünen Erfolg lässt sich in St.Gallen der Einzug Franziska Rysers in die grosse Kammer erklären. Vereint doch die 28-Jährige drei hochaktuelle Aspekte dieser Wahl: grün, jung, weiblich.
Für viele überraschend ist im Kanton St.Gallen Thomas Brunner für die GLP in den Nationalrat eingezogen. Überraschend deshalb, weil man eher mit dem Infektiologen Pietro Vernazza rechnen konnte, zumal dieser auch für den Ständerat kandidiert hatte. Hat die Wahl Brunners auch mit seinem Listenplatz zu tun? Die GLP hatte ihre Kandidaten in alphabetischer Reihenfolge auf der Wahlliste aufgeführt. Brunner stand zuoberst, Vernazza rangierte an zweitletzter Stelle. Laut Politologe Claude Longchamps zeigen fast alle Untersuchungen seit 2011, dass der Listenplatz für die Anzahl Stimmen eine Rolle spielt. Der Grund: Die letzten Namen auf der Liste werden eher zum Panaschieren durchgestrichen. Moeckli relativiert: «Das trifft dann zu, wenn es sich um unbekannte Kandidaten handelt.» Pietro Vernazza hingegen habe man sehr wohl gekannt. Seine Nichtwahl sei eher seiner fehlenden politischen Erfahrung und Verankerung in der Partei und den Verbänden zuzuschreiben.
41,9 Prozent der Wahlberechtigten gingen in St.Gallen an die Urne. Rechnet man jene Leute mit ein, die nicht stimmen dürfen – also Minderjährige, Unmündige und Ausländer – beträgt der Anteil der Stimmenden an der Wohnbevölkerung 26 Prozent. Ist das noch zeitgemäss? «Historisch gesehen wurde die Mitsprache in der Schweiz immer auf weitere Gruppen ausgeweitet», sagt Moeckli. Phasenweise war das Stimm- und Wahlrecht gar an Vermögen geknüpft, bis 1971 blieben die Frauen ausgeschlossen, bis 1991 durfte nur wählen, wer das 20. Lebensjahr erreicht hat. Ausländer machen heute gerade in Städten einen bedeutenden Teil der Bevölkerung aus. Ob sie auch ein Recht auf Mitsprache haben sollen, sei eine politische Frage, so Moeckli. «Zu einem demokratischen System gehört, dass man die Regeln ändern kann.»
Bei der Nationalratswahl haben sich Jungpolitiker von CVP, FDP, GLP, Grüne und SP auf sechs der total 25 Listen eingebracht. Damit waren von den total 255 Kandidierenden immerhin 70 (27,5 Prozent) junge Kandidaten. Alle Jungparteien zusammen holten 6,8 Prozent der 1 592 232 Wählerstimmen. Mit 2,39 Prozent (38 064 Stimmen) ist die JCVP klar die stärkste Jungpartei, gemäss eigener Aussage «zum vierten Mal in Folge»; parteiintern entspricht der Anteil Jungpolitiker immerhin 12,7 Prozent. Noch höher ist er mit 13,6 Prozent bei den Jungen Grünen, die 26 095 Stimmen (1,64 Prozent) erreichen, und der JGLP mit 20323 (1,28). Bei der GLP ist der Anteil Jungpolitiker mit 17,5 Prozent am höchsten. Die JFDP machte 13039 (0,82) Stimmen, die Juso 10326 (0,65) – zusammen erzielen die Jungpolitiker ein Total von 107847 Stimmen. (cz)