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Ostschweiz
Eine junge St.Galler Historikerin hat einen speziellen Aspekt der Geschlechtergeschichte recherchiert: In der Kantonshauptstadt wurden junge Frauen, die den Ansprüchen des Bürgertums nicht genügten, im Mädchenheim Wienerberg (1888-1974) zur Nacherziehung versorgt.
«Demütig», «aufopfernd», «mütterlich»: So lauteten um 1900 die gesellschaftlichen Anforderungen an den Charakter junger Frauen. Manchen fehlten diese Charaktereigenschaften, angeblich aufgrund ihrer Herkunft. Galten diese Mädchen als «arbeitsscheu», «sittlich gefährdet», «verwahrlost» oder gar «gefallen», wurden sie von Fürsorge- und Vormundschaftsämtern in Heimen «versorgt». Dort sollten diese Abweichungen weg erzogen und arbeitsame sowie sittlich gefestigte junge Frauen geformt werden.
Ein Vorgehen, das in unserer modernen Gesellschaft, die über Vaterschaftsurlaube und Frauenquoten diskutiert, undenkbar erscheint. Dennoch verharren die Rollenbilder bezüglich der Stellung der Frau innerhalb der Familie vielerorts auf den althergebrachten Vorstellungen. Der Mann kümmert sich oft zu hundert Prozent um die finanzielle Sicherheit der Familie und die Frau um Haushalt und Kindererziehung. Genau so, wie es die bürgerliche Schicht im 19. Jahrhundert vorgelebt hatte.
Aufgrund der mit der Industrialisierung einhergehenden sozialen Frage erging es den Frauen aus der Arbeiterschicht anders. Sie sahen sich oft gezwungen, in den Fabriken mitzuarbeiten, wodurch sie sich mit Haushalt und Kindererziehung einer hohen Belastung aussetzen. Die Fabrikarbeit der Frauen (und Kinder), die Wohnungsnot in den Grossstädten, die Prostitution und die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten waren Themen, die im späten 19. Jahrhundert in der internationalen und auch der hiesigen Öffentlichkeit hitzig diskutiert wurden. Man befürchtete den Verlust der bürgerlichen Ordnung und Sitte.
Um diesem Problem entgegenzuwirken, wurden ab 1875 erste Sittlichkeitsvereine gegründet. Deren Mitglieder waren vorwiegend unverheiratete Frauen aus der Oberschicht. Die erklärten Ziele dieser Vereine: die Gleichberechtigung der Frauen sowie die Abschaffung der Prostitution.
Junge Frauen aus der Arbeiterschicht galten als am meisten «gefährdet», sexuell ausgebeutet zu werden. Sie würden von ihren Eltern zur Ausbildung und zur Arbeit in die «verderblichen» Städte geschickt, hiess es. Dort waren sie unbeaufsichtigt und somit zahlreichen moralischen Gefahren ausgesetzt.
Diese Frauen sollten geschützt und vom Laster fern gehalten werden. Gleichzeitig sollten ihnen mütterliche und aufopfernde Charakterzüge eingeimpft werden. Im Jahr 1875 wurde in der Westschweiz ein erstes Mädchenasyl gegründet, das junge Frauen vor Versuchungen schützen wollte. Bald verbreiteten sich solche Mädchenasyle schweizweit. Denn der Heimaufenthalt galt als ideale Lösung, um weibliche Jugendliche aus ihrer gewohnten Umgebung herauszunehmen, sie positiv zu beeinflussen und ihnen zu ihrer gesellschaftlich erwünschten Rolle als Hausfrau und Mutter zu verhelfen.
Auch in dem 1888 eingerichteten «Asyl für schutzbedürftige Mädchen» in St.Gallen zielten alle Massnahmen auf die Integration in die bürgerliche Gesellschaft ab. Die Sittlichkeitsvereine durften sich über grossen Zulauf freuen. Allein im Kanton St. Gallen gab es um die Jahrhundertwende knapp 90 solcher Frauenunterstützungsvereine. Die Stadt St. Gallen war im 19. Jahrhundert stark gewachsen und übte eine gewisse Attraktivität auf junge Frauen aus. Der städtische Frauenverein wollte jenen Frauen helfen, die ihnen von Eltern, Vormundschafts- oder Armenbehörden zugewiesen worden waren.
Gründe für die Aufnahme im Asyl waren etwa eine «Verführung» oder eine aussereheliche Schwangerschaft. Bald konzentrierte man sich auf die Nacherziehung von «sittlich gefährdeten», «sinnlichen» oder «verwahrlosten» Frauen zwischen 17 und 21 Jahren. «Gefallene» Mädchen, also solche, die unverheiratet schwanger geworden waren, wurden in andere Heime verwiesen. Das Asyl erfuhr in den ersten zehn Jahren so starken Zulauf, dass ab 1897 zwei Häuser auf dem Wienerberg in St.Gallen-Rotmonten errichtet wurden – finanziert durch Kollekten. Ab 1935 wurde das Asyl in «Mädchenheim Wienerberg» unbenannt.
Die Aufgabe der Nacherziehung und der sittlichen Festigung der jungen Frauen übernahmen einerseits der jeweilige Pfarrer der evangelischen Kirche St. Leonhard und andererseits die Vorsteherinnen im Mädchenheim. Diese waren meist bürgerliche Wohltäterinnen. Sie fühlten sich dazu berufen, die jungen Frauen mit Disziplin und Arbeit auf den richtigen Weg zu führen. Die Heimbewohnerinnen finanzierten den Heimbetrieb durch Waschen, Glätten und Nähen von Kundenwäsche. Wenn sie gehorchten und die Regeln befolgten, wurde ihr Heimaufenthalt als Erfolgsgeschichte erzählt: Die jungen Frauen, die vor dem Eintritt «vor Schmutz starrten», von «Ungeziefer» befallen waren und sich misstrauisch und «mürrisch» zeigten, hätten schon «nach wenigen Tagen einen aufgehellten Blick», wie es in Berichten heisst.
Ausserdem seien ihre Haltung «straffer» und ihr «Benehmen freier und offener». Angestrebt wurde die Wandlung vom verwahrlosten Strassenkind zur «rotwangigen jungen Frau». Das Mädchenheim verstand sich als «rettenden Strand», an den die zu beschützenden Frauen «geworfen werden». Man war sich aber bewusst, dass sich die meisten Bewohnerinnen nicht freiwillig im Heim befanden. Eines der Hauptziele war es daher, den reibungslosen Ablauf zu bewahren, um so die Bewohnerinnen vor der «sittlichen Gefährdung» zu schützen.
Damit der «Hausfrieden» gesichert war, griff das Mädchenheim auf rigide Kontrollen zurück. Wer den Vorstellungen der Heimleitung von angemessenem Benehmen zuwiderhandelte, wurde zum «Problem» und entsprechend bestraft. Die Disziplinarmassnahmen umfassten Ermahnungen, Warnungen, Essensentzug und Isolation. Als letzte Lösung drohte der Verweis aus dem Heim und die Rücksendung an die versorgende Instanz.
Wie problematisch diese Verweise waren, zeigen Beispiele: 1892 wurde eine 16-Jährige aufgrund ihres schlechten Betragens aus dem Heim verwiesen und samt Kleidern und ein bisschen Reisegeld in ihre Heimat geschickt. Ob sie je dort ankam, ist ungeklärt.
Eine andere junge Frau galt in den Berichten des Heims als «geistig zurückgeblieben». Sie wurde von ihren Eltern aufgrund «zuchtlosen Verhaltens» im Wienerberg versorgt. Dort verweigerte sie die Mitarbeit und wurde aus dem Heim verwiesen. Ihre Eltern wollten sie jedoch nicht zurücknehmen. Die junge Frau stürzte sich daraufhin in ihrer Verzweiflung aus einem Fenster im dritten Stock und verletzte sich schwer. Nach ihrer Genesung im Kantonsspital St.Gallen wurde sie zu ihren Eltern geschickt. Nachdem ihr erneut ein «zuchtloses» Leben unterstellt worden war, wurde sie in die «Irrenanstalt» eingewiesen, wo sie – wie die Heimleitung kühl festhielt – «wohl von Anfang an hingehört hätte».
Von Anfang an gab es junge Frauen, die aus verschiedenen Gründen aus dem Mädchenheim flohen. Da das Heim keine geschlossene Anstalt war, konnten Fluchten nicht verhindert werden. Sie wurden sogar stillschweigend akzeptiert. Denn ohne «Provokateurinnen», die sich nicht fügen wollten, konnte sich die Heimleitung besser auf ihre Erziehungsarbeit konzentrieren. In die Schlagzeilen geriet das Mädchenheim, als 1948 bekannt wurde, dass «eine grössere Zahl Mädchen» aus dem Heim verschwunden war. Grund des Ausbruchs war eine Protestaktion der Heimbewohnerinnen gegen das Heimkomitee aufgrund der Kündigung einer Vorsteherin. Diese konnte sich gemäss der Heimleitung nicht gegen die jungen Frauen durchsetzen. Unter ihrer Führung wurden sogar die Hausregeln gelockert, da sie ihren Schützlingen Freiheiten einräumen wollte. Die Heimleitung befürchtete bald ein Komplott und kündigte der Vorsteherin.
Die Heimbewohnerinnen ergriffen daraufhin gemeinsam die Initiative. Sie sammelten Unterschriften und schrieben zahlreiche Briefe an Amtsvormundschaften. Einer dieser Briefe gelangte an das Departement des Inneren des Kantons St. Gallen. Der Brief war später der Auslöser für eine Inspektion des Mädchenheims durch den Erziehungsrat. Am Tag der Abreise der Vorsteherin ergriffen die Bewohnerinnen die Flucht. Sie wurden jedoch von der Polizei aufgegriffen oder von ihren «Versorgern» ins Heim zurückgeschickt. Pfarrer Hans Martin Stückelberger verharmloste in seinem Jahresbericht die Affäre mit den Worten, dass «nach einer nicht sehr angenehmen Woche alles wieder in Ordnung» sei.
Neben Heimweh nach den Eltern und der Ablehnung des Eingesperrtseins wurde der Heimaufenthalt teilweise auch positiv aufgefasst. Eine Bewohnerin schrieb: «Es war halt schön im Asyl, es waren drei schöne Jahre, die ich gewiss nie in meinem Leben vergesse. Und doch freue ich mich, bis ich wieder einmal heim zu den Eltern kann.» Ab 1910 wurden der streng organisierte Arbeitsablauf im Heim durch Schulstunden ergänzt und den Frauen später eine berufliche Ausbildung ermöglicht. Auch in den Reihen der Heimbewohnerinnen fand ein Umdenken statt. Die neue Generation trug die Populärkultur der 1950er-Jahre bis in die konservativen Hallen des Wienerbergs. Plötzlich schwärmten junge Frauen auch dort für Diven aus Film- und Fernsehen, und in ihren Kleiderschränken hingen Jeans, Röhrlihosen und kurze Jupes.
Steigende Kosten und sinkende Belegungszahlen stellten das Heim mit der Zeit vor finanzielle Probleme. Und die gesellschaftlichen Veränderungen entzogen der Institution allmählich die Legitimation. So kämpfte die Frauenbewegung in den 1950ern gegen die Diskriminierung von ledigen Müttern. Die Forderung auf das «Recht auf ein Kind ohne Mann» resultierte darin, dass die gesellschaftliche Verurteilung von «gefährdeten» und «gefallenen» Mädchen bald der Vergangenheit angehörte. Aufgrund dieser Entwicklungen schloss das Mädchenheim Wienerberg 1974 seine Tore und wurde zu dem heute noch bestehenden Wohn- und Pflegehaus umfunktioniert.
Die gewandelten Ausbildungsziele des Mädchenheims und die veränderte Wahrnehmung der jungen Frauen stehen stellvertretend für den gesellschaftlichen Strukturwandel und die damit verbundene Verschiebung der Rolle der Frau in der Gesellschaft. 1978 traten die Gleichstellung des ehelichen und unehelichen Kindes sowie die Verbesserung der Rechtsstellung der unverheirateten Mütter in Kraft.
Mit der im europäischen Vergleich sehr späten Einführung des Frauenstimmrechts 1971 und der Verankerung der Gleichstellung von Mann und Frau in der Verfassung 1981 wurde es für Frauen selbstverständlicher, Berufe zu erlernen, die früher Männern vorbehalten gewesen waren. Trotz aller Fortschritte sehen sich die Frauen in unserer Gegenwart, was ihre Aufgabe betrifft, noch nicht weit entfernt von der bürgerlichen Auffassung des 19. Jahrhunderts.
Der Artikel ist die gekürzte Fassung eines Buchbeitrags zur St.Galler Sozialgeschichte. Autorin Denise Eigenmann (1982) schloss im Frühjahr 2019 ihr Masterstudium in Kunstgeschichte und Geschichte an der Universität Zürich ab. Sie arbeitet als Assistentin der Chefredaktion unserer Zeitung.