DROGENPOLITIK: "Illegales Cannabis steht vor dem Aus"

Kaum jemand in der Ostschweiz kennt sich mit Suchtmitteln so gut aus wie Jürg Niggli. Der langjährige Leiter der Stiftung Suchthilfe in St. Gallen über den Hype um die Hanfzigarette, den Umgang mit Heroin und die Gefahr von Crystal Meth.

Andri Rostetter, Regula Weik
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«Die Hanfzigarette ist kaum ein Produkt, das die Jungen anspricht.»: Jürg Niggli mit verschiedenen Hanfprodukten. (Bild: Urs Bucher)

«Die Hanfzigarette ist kaum ein Produkt, das die Jungen anspricht.»: Jürg Niggli mit verschiedenen Hanfprodukten. (Bild: Urs Bucher)

Andri Rostetter, Regula Weik

ostschweiz@tagblatt .ch

Jürg Niggli, haben Sie schon eine Hanfzigarette geraucht?

Ja, vor einer Woche habe ich einen Selbstversuch gemacht.

Und, wie war es?

Ich war etwas enttäuscht. Sie schmeckte nach Waldmeister, eine Wirkung spürte ich kaum. Was mich aber überrascht hat: Ich hatte seit Tagen einen schmerzenden Punkt im Rücken. Zwei Stunden nachdem ich die Zigarette geraucht hatte, war der Schmerz weg.

Das war doch Zufall.

Gut möglich. Oder ein Placebo-Effekt, ich weiss es nicht. Es gibt jedenfalls stärkere Cannabis-Produkte als diese CBD-Zigarette. Immerhin: Mein Verlangen nach Tabak war gestillt, ich brauchte danach keine Feierabend-Zigarette mehr. Hanfzigaretten allein wegen des Tabak-Genusses zu rauchen, ist allerdings ein teures Vergnügen.

Wie gefährlich sind Hanfzigaretten?

Weniger gefährlich als normale Zigaretten.

Wie bitte?

Weil sie so teuer sind, raucht man automatisch weniger. Der Cannabidiol-Gehalt ist vernachlässigbar. Was bleibt, ist das Risiko des Tabak-Konsums.

Die Polizei hat aber schon Leute aus dem Verkehr gezogen, die unter dem Einfluss von CBD-Zigaretten mit dem Auto unterwegs waren.

Die Rauschwirkung ist praktisch inexistent. Ich will nicht von einem Heilmittel sprechen, aber das Cannabidiol kann in gewissen Fällen sogar positiv wirken.

Finden Sie es sinnvoll, dass Hanf­zigaretten nun frei erhältlich sind?

Ja und Nein. Ob Tabakprodukte generell sinnvoll sind, ist fraglich. Dass ein CBD-haltiges Produkt frei erhältlich ist, ist aber eine Entwicklung, die man begrüssen kann.

Wieso?

Entscheidend war die Entwicklung in den USA. Nach der Legalisierung des Alkohols in den 1930er-Jahren brauchte der ganze Drogenbekämpfungsapparat einen neuen Feind. Es kam zu einer Verteufelung von Cannabis; es wurde mit Gewalttaten in Verbindung gebracht. Deshalb wurde auch die positive Wirkung des Cannabidiols verleugnet, obwohl diese schon im 19. Jahrhundert bekannt war. Auch in der Schweiz war Cannabis als Heilmittel zugelassen. Jetzt erlebt der Hanf eine Renaissance, die Pflanze bekommt den Platz, der ihr gebührt.

Was bedeutet die CBD-Zigarette für das illegale Cannabis?

Wir stehen vor einer Zeitenwende. Das Ende des illegalen Cannabis ist eingeläutet. Das legale Cannabidiol ist ein Vorreiter. Es ist noch eine Frage der Zeit, bis auch THC-haltiges Cannabis reguliert wird.

Was meinen Sie damit?

Cannabis wird nie ein gewöhnliches Produkt sein. Es gehört in einen kontrollierten, lizenzierten Kreislauf. Anbau, Handel, Vertrieb und Deklaration müssen reguliert sein. Das wird kommen.

CBD-Hanf ist also keine blosse Modeerscheinung?

Der Hype wird abflachen, aber die Nachfrage wird bleiben.

Mit der Regulierung wird Cannabis den Charakter des Verruchten, Rebellischen verlieren.

Ja. Die CBD-Zigarette ist kaum ein Produkt, das die Jungen anspricht. Jugendliche wollen sich abgrenzen. Wenn Erwachsene die Jugendlichen im Suchtmittelkonsum nachahmen, suchen sich die Jugendlichen neue Felder.

Muss die Prävention deshalb angepasst werden?

Ob Cannabis legal oder illegal ist, ändert nichts an unserer Haltung. Für uns ist klar: Jugend und Drogen, das geht nicht. Jugendliche im Reifungsprozess sollen die Finger von Suchtmitteln lassen. Bei Erwachsenen ist es etwas anderes. Dort ist die Botschaft: Alles mit Mass. Auch wenn Cannabis legal ist, bleibt das Suchtrisiko.

Cannabis ist vergleichsweise harmlos. Was macht Ihnen Sorgen?

Den grössten Respekt habe ich vor Crystal Meth. Diese Droge lauert im Umfeld der Schweiz. In den USA ist sie weit verbreitet, auch in Deutschland findet man sie immer häufiger.

Was macht diese Droge gefährlich?

Crystal Meth ist sehr aggressiv und richtet enorme körperliche und psychische Schäden an. Wenn sich diese Droge in der Schweiz verbreitet, haben wir ein grösseres Problem. Es gibt derzeit aber keine Anzeichen, dass sich Crystal Meth demnächst in der Schweiz etablieren könnte.

Es gibt die Droge in Deutschland und den USA, weshalb nicht in der Schweiz?

Crystal Meth ist billig. Wer wenig Geld hat und sich zudröhnen will, für den ist diese Droge attraktiv. In der Schweiz haben die Leute zum Glück noch genug Geld, dass sie sich das teurere, aber harmlosere Heroin leisten können.

Heroin ist harmloser?

Ja. Es macht nicht so aggressiv und zersetzt Körper und Geist nicht. Crystal Meth zerstört innert kürzester Zeit psychische Barrieren und Hemmschwellen, der Konsument verwahrlost sehr schnell. Heroin hat nie diese zerstörerische Kraft, man kann Heroin über Jahre relativ geordnet konsumieren.

Ist Heroin noch ein Problem in der Schweiz?

Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht nicht. Es gibt keine offenen Drogenszenen mehr, die Beschaffungskriminalität hat sich erledigt. Für den einzelnen Süchtigen bleibt es jedoch ein Problem. Wir haben aber viel erreicht, die Lebensqualität der Abhängigen ist in den vergangenen 20 Jahren deutlich gestiegen. Wer heroinsüchtig ist, kann heute ein einigermassen geregeltes Leben führen.

Was ist mit Kokain?

Die Abwasserwerte zeigen, dass Kokain auch in der Ostschweiz häufig konsumiert wird, allerdings ohne gesellschaftliche Auswirkungen. Wer seinen Konsum im Griff hat, kann über Jahre ohne grössere Auswirkungen Kokain nehmen. Aber es bleibt ein Suchtmittel. Wer intensiv Kokain konsumiert, kämpft bald mit psychischen Probleme, er wird möglicherweise depressiv, die Leistungsfähigkeit nimmt ab. Hinzu kommt, dass Kokain rasch ins Geld geht. Das hat dann gravierende Auswirkungen auf das familiäre Umfeld und das Berufsleben.

Gibt es punkto Drogen überhaupt noch politischen Handlungsbedarf, wenn wir nirgends mehr gesellschaftliche Probleme damit haben?

Die erfolgreichen Behandlungs- und Beratungsangebote müssen gesichert bleiben. Die Debatte über die Cannabis-Legalisierung muss zwingend stattfinden. Andere Länder haben uns da längst überholt. Und sie haben auch gemerkt, dass dieser Markt eine gute Einnahmenquelle für Steuern ist. Lieber zwei Online-Glücksspiel-Plattformen weniger, dafür Cannabis legalisieren – nicht nur aus finanzpolitischer, sondern auch aus gesellschaftlicher Sicht: Cannabis hat weniger problematische Auswirkungen.

Wenn Sie an Ihre Anfänge zurückdenken: Was hat sich geändert?

Die offenen Drogenszenen sind verschwunden. Es ist nicht zu befürchten, dass sie sich wieder etablieren. Auch der Umgang mit Heroin hat sich entkrampft. In den 1980er-Jahren war Heroin im Sorgenbarometer der Credit Suisse mehrmals an erster Stelle. Heute spricht niemand mehr davon. Dafür entstehen neue Suchtformen wie Gamen, Chatten. Und: Die Bedeutung von Alkohol hat zugenommen.

Woran liegt das?

Zeitgeist, Ausgehverhalten, Erhältlichkeit. Und die Akzeptanz. Über 20 betrunkene Studenten regen sich die Leute weniger auf als über ein paar Randständige mit Bierbüchsen. Trotzdem: Die Toleranz gegenüber Randständigen hat in den letzten Jahren zugenommen. Das ist erfreulich. Wir haben heute Projekte, bei denen Banker Tage mit Drogen­abhängigen verbringen. Das war vor 20 Jahren undenkbar.

Was hat sich nicht verändert?

Suchtmittel gehören zur Gesellschaft. Das war vor 1000 Jahren so, das wird auch in 1000 Jahren noch so sein. Auch was den problematischen Konsum angeht, muss man sich keine Illusionen machen. Einen Sockel an Süchtigen wird es immer geben. Das muss man akzeptieren. Die drogenfreie Gesellschaft ist ein unrealistisches Ziel. Aber auf die extremen Auswirkungen müssen wir ein Auge haben. Wir müssen Jugendliche und Familien schützen. Wenn diese gefährdet sind, dürfen wir das nicht hinnehmen.

Zigarette mit Zusatz

Seit die Steinacher Tabakfirma Koch & Gsell im Juli die weltweit erste Hanfzigarette auf den Markt gebracht hat, wird wieder über die Cannabis-Legalisierung debattiert. Die Steinacher Hanfzigarette enthält Cannabidiol (CBD), eine schwach psychoaktive Substanz, der positive Effekte zugeschrieben werden. CBD soll entkrampfend, entzündungshemmend und angstlösend sein. Der THC-Anteil des Hanfs liegt unter einem Prozent, deshalb hat die Zigarette keine berauschende Wirkung und ist legal. Coop und diverse Kioske haben die Hanfzigarette ins Sortiment aufgenommen. (ar)