Fabian ist ohne Iris zur Welt gekommen. Unter fachlicher Anleitung lernt der Vierjährige, mit seiner Sehbehinderung umzugehen.
«Du darfst die Bälle jetzt hier ins Rohr füllen und ihnen lange nachschauen, wenn sie wieder herausspringen», sagt Monika Heer zu Fabian*, einem aufgeweckten vierjährigen Kindergärtler.
In der Stube des Einfamilienhauses in Sevelen greift sich Fabian Ball um Ball und füllt einen nach dem anderen in ein etwa einen Meter langes Kartonrohr. Die Bälle hopsen unten heraus und springen über den dunklen Plattenboden in Richtung Speicherofen. Fabian sammelt die Bälle selber wieder ein. Er tut es zielsicher, trotz gedämpftem Licht.
Fabian fehlt seit Geburt die Iris. «Vergleich man sein Auge mit einer Fotokamera, hat er keine <Blende>. Ausserdem kann er nicht gut scharf stellen. Hinzu kommt ein Augenzittern», erläutert Fabians Mutter, Anna Gehrig*.
Monika Heer, Beraterin und Trainerin der Sehberatung der Organisation Obvita, lobt Fabian: «Gut machst du das.» Dann erklärt sie: «Das ist gar nicht einfach. Die Bälle aus dem Magazin herauszunehmen, ohne dass alle herausfallen, und sie ins Rohr einzufüllen, erfordert viel Geschicklichkeit und Konzentration.»
Wegen seiner Sehbehinderung ist es für Fabian schwierig, Auge und Hand zu koordinieren. Und die Dinge zu erkennen. Im Sommer ist er rasch geblendet. Rad fährt er dann nur mit abgedunkelter Brille. Umgekehrt ist in dunklen Situationen genug Licht wichtig. «Wenn Fabian mit den Augen kneift, wissen wir, dass die Lichtverhältnisse nicht stimmen», sagt Monika Heer.
Seit dem Jahr 1993 betreibt die Organisation Obvita eine Sehberatung für Kinder und Jugendliche (Kasten). Zehn Heilpädagoginnen und Heilpädagogen mit Zusatzausbildungen im Bereich Sehen besuchen wie Monika Heer Kinder in allen Ostschweizer Kantonen – und beraten auch Eltern und Lehrpersonen. Seit rund zwei Jahren ist der Dienst im Kanton St. Gallen auch in der Frühförderung möglich.
«Die Frühförderung ist sehr wichtig», sagt Monika Heer. «Die Kinder lernen gewisse Dinge innerhalb bestimmter Zeitfenster. Sehbehinderte Kinder können mit den optischen Reizen von Spielzeug und Umgebung, die entscheidend fürs Lernen sind, nichts anfangen. Also arbeiten wir mit speziellem Spielzeug und fördern neben dem Sehen vor allem das Berühren und Hören.»
Anna Gehrig erinnert sich: «Als bei Fabian im Alter von ein paar Monaten das Fehlen der Iris entdeckt wurde, wollte ich wissen, ob das schlimm sei. Der Arzt sagte Ja und schloss die Tür hinter sich. Ich blieb mit meinen brüllenden Fragen allein.»
Diese Fragen werden im Rahmen der Frühförderung immer wieder beantwortet. Die Beraterinnen und Berater von Obvita sind zu Hause bei den Familien tätig, suchen aber auch den Hort, den Kindergarten oder die Schule auf – eine wichtige Voraussetzung, damit auch die Kinder mit einer Sehschwäche von Anfang an die Regelschule besuchen können. «Im Hort hat es einige gefährliche Glasscheiben. Also erkundeten wir erst gemeinsam das ganze Haus. Fabian prallt dort nie in eine Glaswand», berichtet Monika Heer.
«Meistens haben die Lehrpersonen zu Beginn Bedenken, ob sie mit einem sehbehinderten Kind ihren Unterricht durchführen können wie bisher», sagt die Beraterin. Doch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Obvita beantragen auch nötige Hilfsmittel bei der Invalidenversicherung. Sehbehinderte Kinder haben auf ihrem Schulpult zum Beispiel eine Lampe stehen. Die Tischplatte sollte schräggestellt sein, damit der Abstand zum Gegenstand gleichmässig ist.
Eltern und beteiligte Lehrpersonen werden mit der Zeit selber zu Experten: Anna Gehrig fertigte für ihren Sohn schon früh eigene Bilderbücher. «Die Bücher im Handel weisen kaum Kontraste auf», erklärt sie. In ihrem Bilderbuch ist der Seitenhintergrund zum Beispiel schwarz. Der Apfelbaum darauf kommt in prächtigen Farben daher. Für den Stamm verklebte Anna Gehrig Kork. Die Äpfel sind aus rotem Glanzpapier. So erfährt ihr Sohn die Bilder auch mit den Händen.
Auch in der Küche ist das Licht gedimmt. Die Mandarinen isst Fabian von einem hellgrünen Teller. «Die Briobahn-Schienen sprühten wir gelb, damit sie sich gut vom Kachelboden abheben», sagt die Mutter.
Monika Heer breitet einen Spielteppich mit verschiedenen Knöpfen aus. Neben grossen Stoffzahlen von eins bis zehn leuchten rote Lampen. Die Wohnzimmerbeleuchtung wird nun fast ganz ausgemacht. Fabian soll immer dort drücken, wo die Lampe gerade aufscheint – erst mit den Händen, dann mit dem Fuss. Er tut es rasch.
Für Fabian ist die Frühförderung bald abgeschlossen. Niemand zweifelt daran, dass er die Schule gut bewältigen wird. Und die Beratungsangebote von Obvita werden ihm bei Bedarf bis zur ersten Ausbildung und je nachdem auch im Erwachsenenleben zur Verfügung stehen.
Die Lektion ist für diesen Tag vorbei. Monika Heer verabschiedet sich allmählich. Da gibt Anna Gehrig ihr das Bilderbuch mit, das sie vor ein paar Jahren für ihren Sohn herstellte. «So prächtig. Ich danke dir vielmals. Ich bringe es dann irgendwann wieder zurück», freut sich die Beraterin.
* Namen geändert