Neuer Bahnhof St.Gallen: Die Bratwurstmetropole kann es doch

Am Freitag ist der St.Galler Bahnhof mit viel Brimborium eröffnet worden. Die wichtigste Errungenschaft der sechsjährigen Planung und dreijährigen Bauerei: Es gibt erstmals einen Bratwurststand.

Marcel Elsener
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Die Erlösung nach einer ewigen Hungerstrecke: Der neue Bratwurststand am Bahnhof St.Gallen. (Bild: Urs Bucher)

Die Erlösung nach einer ewigen Hungerstrecke: Der neue Bratwurststand am Bahnhof St.Gallen. (Bild: Urs Bucher)

Uff, geschafft! St. Gallen hat einen nigelnagelneu umgestalteten Hauptbahnhof und Bahnhofplatz. Das ist nicht selbstverständlich, denn oft genug hadert die Gallusstadt mit zentralen Gestaltungen, haut daneben oder schafft es einfach nicht, siehe Marktplatz. Im Fall des Bahnhofs, immerhin die mit derzeit täglich 80000 und dereinst 110000 Passanten meist frequentierte Verkehrsdrehscheibe der Ostschweiz, darf sich das Resultat sehen lassen und hält dem Vergleich mit grösseren Städten stand.

Nicht peinlich, nicht übertrieben, keine oder kaum Schildbürgereien (Detail­kritiker schimpfen bekanntlich noch immer über zu hohe Buskanten und Wartehallen), vielmehr praktisch, stimmig, übersichtlich, garament hübsch: Die Urteile fallen überwiegend positiv aus, über manche Teile wie die grosszügige Rathausunterführung herrscht sogar Begeisterung. Untypisch St. Gallen, weil mutig, wirken Neuerungen wie der Glaskubus, Möslangs binäre Uhr und ja, auch der späte Verzicht auf ein Nullachtfünfzehn-Wasserspiel zu Gunsten des Comebacks des Lämmler-Brunnens als sprudelnder Faltenwurf der Textilstadt; freilich wäre die neuerliche Installation des vom Volksmund einst als «erigiertes Handtuch» verspotteten Werks gemäss der ursprünglichen Idee als aufgehängtes Tuch am Wäscheseil noch etwas mutiger gewesen.

Die Behebung eines unendlich beklagten Mangels

Schön und gut. Jedoch der wahre Wurf der Bahnhofsgestaltung, die wichtigste Errungenschaft der sechsjährigen Planung und dreijährigen Bauerei aber ist typisch St. Gallen, respektive typischer geht’s nicht, im Guten wie im überwundenen Schlechten. Es ist die Erfüllung eines jahrzehntelang erträumten Traums, die Behebung eines unendlich beklagten Mangels, die Erlösung nach einer ewigen Hungerstrecke, man darf sich dies ganz langsam auf der Zunge zergehen lassen: St. Gallen hat erstmals in seiner Geschichte einen Stand, an dem man nach Ladenschluss noch eine Wurst vom Grill über die Gasse erhält. Juhui! Was in- und ausländische Touristen, vor allem aber auch Einheimische, seit Jahrzehnten vermissten, steht jetzt da, zentral in der Ankunftshalle, direkt zwischen Gleis 1 und Busbahnhof. Dort kann man also – ein historisches Datum – seit dem 1. Juni 2018 an einem normalen Wochentag, beispielsweise an einem stinknormalen Nieselnovemberdienstag, um halbneun Uhr abends eine echte St. Galler Bratwurst kaufen.

Was für ein Fortschritt, ja welch eine Sensation, in der Rückschau wahrlich unglaublich: Die selbst ernannte Bratwurstmetropole konnte es einfach nicht, entgegen dem Slogan ihres Kantons («… kann es»). Sie hatte es anders als etwa Zürich (Sternengrill) vor diesem Sommer tatsächlich nie geschafft, irgendwo einen Grillstand hinzustellen, wo ihre Fleisch gewordene Identität, die weltberühmte Kalbfleischspezialität zu späteren oder sonntäglichen Imbisszeiten erhältlich war. Dabei kann sich die Gallusstadt über nichts so ereifern wie ihre Wurst, etwa wenn sie im Fussballstadion zu wenig durchgebraten oder zu lange abgewartet werden muss oder wenn sie beim Bundesratsbesuch im Pfalzkeller zu schnell ausverkauft ist. Selbstverständlich gab und gibt es tagsüber ein Dutzend Metzgereitheken, mit verlängerter Öffnungszeit am (mittlerweile bedeutungslosen) Abendverkaufs-Donnerstag, und auch am Bahnhof gab es einen mobilen Stand, aber nur sporadisch und mit allenfalls saisonalen Verlängerungen.

Burger, Kebab, Falafel - aber nirgends Wurst

Und selbstverständlich sind Bratwürste im Angebot, wo immer Herr St. Galler und Frau St. Gallerin irgendetwas feiern, Stadt- und Kinderfest, Offa und Olma, New Orleans und Open Air, Fussballplätze, Handballhallen, Pferderennbahnen. Aber an normalen Abenden mussten Wurstesser ausweichen: auf Burger, Kebab, Falafel und so weiter, die berühmte Wurst gab’s nirgends. Und nun also endlich ein Bratwurststand: Verlässlich, an 365 Tagen im Jahr, unter der Woche bis um 21 Uhr, getreu der Mindestöffnungszeit der SBB. Und gemäss der neuen Strategie des Bahnbetreibers, an seinen Bahnhöfen nicht nur nationale Ketten, sondern immer auch zwei, drei lokale Betriebe wie einen stadtbekannten Bäcker einzurichten.

Die SBB waren es, die ausdrücklich eine St. Galler Metzgerei wünschten und die Fläche entsprechend ausschrieben, Schmid hatte offenbar das beste Konzept und hervorragende Referenzen – nach der Meinung vieler produziert er sowieso die allerbeste St. Galler Bratwurst. Der Absatz der ersten Monate belegt das Bedürfnis, täglich gehen Hunderte Würste über die Theke, die ersten früh morgens ab 7 Uhr an Bähnler, Buschauffeure und Schichtarbeiter, der Verkauf nimmt mittags und in den Feierabendstunden zu. Schmids Erfahrungen belegen die im Ausgehpublikum seit längerem vermutete Goldgrube einer solchen Einrichtung … Streiten lässt sich über die Form und Farbe des Stands: Allzu offensichtlich musste er an den Kubus und das gesamte taubengraue Konzept der anderen Funktionsbauten angepasst werden, böse Zungen sprechen von einer «Verrichtungsbox für Wurstköpfe». Keine Chance für einen Retro-Holzstand, der einen heimeligen Kontrast zum hypermodernen Kubus gebildet hätte. Ein Wermutstropfen, der die Gesamtfreude nicht trübt: St. Gallen kann es für einmal, mit seiner ureigenen Spezialität und erst noch auf der viel bemühten Visitenkarte der Stadt, der grössten in der Ostschweiz.

Manchmal braucht es wenig für einen entscheidenden Schritt der Stadtentwicklung, manchmal ist ein simpler Stand ein sicherer Schub als gross angelegte Kampagnen mit PR-Brim­borium wie «IT rocks». Siehe beispielsweise auch das Milchhüsli auf Drei Weihern, eine kleine Einrichtung als riesiger (Image-)Gewinn. Der Bahnhof-Bratwurststand müsste demnach Ansporn sein für saisonale Marronistände, Buvetten oder andere Imbiss-Treffpunkte. Am Bahnhof und auch in der Innenstadt: Lebendige Gassen können der Stadt der leeren Ladenlokale nicht wurst sein. Darauf einen herzhaften Schmidwurstbiss!