Bauern im Pestizid-Dilemma: Unterwegs im Apfelkanton Thurgau

Pflanzenschutzmittel belasten Bäche, Grundwasser – und zusehends den Ruf der Landwirtschaft. Warum aber verzichten nicht mehr Bauern auf Chemie?

Adrian Lemmenmeier
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Alle wollen perfekte Äpfel. Aber wer bezahlt mehr für solche, die ohne synthetische Pestizide produziert wurden? (Bild: Donato Caspari)

Alle wollen perfekte Äpfel. Aber wer bezahlt mehr für solche, die ohne synthetische Pestizide produziert wurden? (Bild: Donato Caspari)

In einer Scheune stehen gut 60 Obstbauern. Sie lauschen einem Vortrag über den sauberen Umgang mit Pestiziden. Oder: mit Pflanzenschutzmitteln. So lautet die offizielle Bezeichnung für jene Stoffe, die Unkraut, Pilze oder Insekten tilgen, um Pflanzen gesund zu halten. In der Ecke steht ein schwarzer Tank auf Rädern, überzogen mit einem weissen, klebrigen Film. Es ist eine Gebläsespritze für Pflanzenschutzmittel. Zu Anschauungszwecken wurde sie mit dem Insektizid Kaolin beschmiert. «Symbolisch dargestellte Jahresverschmutzung», steht auf einem daran gehefteten Blatt Papier. «Weshalb ist es wohl problematisch, wenn Rückstände eines Pflanzenschutzmittels auf der Spritze haften bleiben?», fragt die Referentin in die Runde. Ein Bauer antwortet:

«Wenn man damit im Regen auf der Strasse unterwegs ist, wird das Zeug abgewaschen und fliesst in die Kanalisation.»

Der Vortrag ist Teil der Güttinger Tagung auf dem Versuchsbetrieb des Bildungs- und Beratungszentrums Arenenberg (BBZ). Jedes Jahr informiert das BBZ hier gemeinsam mit Agroscope, der landwirtschaftlichen Forschungsinstitution des Bundes, über aktuelle Themen im Obstbau. Dieses Jahr geht es um Pflanzenschutzmittel.

Bauern wollen Methoden und Ruf verbessern

Pestizide, vor allem synthetische, stehen seit langem in Kritik. Diesen Sommer lieferten sie besonders häufig Schlagzeilen. Ende Juni hat der Nationalrat die beiden «Pestizid-Initiativen» ohne Gegenvorschlag abgelehnt. Die sogenannte Trinkwasser-Initiative will Landwirte, die Pestizide einsetzen, vom Direktzahlungssystem ausschliessen. Die Initiative «Schweiz ohne synthetische Pestizide» will synthetische Pestizide ganz verbieten. Gut drei Wochen später ­publizierte der Kanton St.Gallen eine Untersuchung zum Zustand von fünf Bächen. Fazit: Kleine Fliessgewässer im Kanton sind teils massiv mit Chemikalien belastet, vor allem mit Rückständen von Pflanzenschutzmitteln. Ein Befund, der für Bäche im ganzen intensiv genutzten Mittelland zutrifft.

Vor kurzem hat nun das Bundesamt für Umwelt (Bafu) eine Studie zum Zustand des Grundwassers veröffentlicht. Dieser zufolge ist in der Schweiz zwar noch ausreichend einwandfreies Trinkwasser vorhanden. Doch stehe diese wichtige Ressource unter Druck (siehe Grafik). Als Hauptverursacherin für die Verschmutzung nennt das Bafu die Landwirtschaft.

An der Güttinger Tagung macht sich mancher Obstbauer Sorgen um den Ruf der Branche. «Schalten Sie nur den Fernseher ein, wir Produzenten werden in den Medien als die Dreckschleudern der Nation dargestellt», sagt einer. Das sei unfair, so der Tenor. Denn zum einen seien die Bauern nicht allein für die Pestizide im Wasser verantwortlich. Und zum anderen habe die Branche das Problem erkannt und mache viel dagegen. Auf nationaler Ebene läuft der Aktionsplan Pflanzenschutzmittel, ein 51-Punkte-Programm, das die Umweltrisiken halbieren soll. In Güttingen erklären Experten, wie man verantwortungsvoll mit Pflanzenschutzmitteln umgeht. Auch gibt es Vorträge zu Anbaumethoden, die mit weniger Pestiziden auskommen. Oder zu Erkenntnissen aus gentechnischen Züchtungstechnologien.

Doch die Tagung ist nicht nur Fachtreffen, sondern auch Image-Offensive. Neben dem Grill der Festwirtschaft steht ein grosser Stand mit Flyern, Broschüren und Plakaten. Auf einem steht gross: «Wir schützen dein Essen.» Die Bauern sind angehalten, Plakate mitzunehmen und an Wanderwegen aufzuhängen.

Obstbauern besichtigen eine Apfelanlage auf dem Versuchsbetrieb des BBZ Arenenberg. (Bild: Adrian Lemmenmeier)

Obstbauern besichtigen eine Apfelanlage auf dem Versuchsbetrieb des BBZ Arenenberg. (Bild: Adrian Lemmenmeier)

Ein Segen, der nicht ins Wasser gehört

Auch Stefan Anderes hat einige Plakaten mitgenommen. Sein Hof liegt eine Autoviertelstunde von Güttingen entfernt in Egnach am Bodensee. Hier baut er auf gut acht Hektaren Äpfel und Birnen an. «Viele Leute haben ein falsches Bild von Pflanzenschutzmitteln», sagt der Obstbauer. Für die Produzenten seien diese Mittel in erster Linie ein Segen. Es sei aber klar, dass Pflanzenschutzmittel nicht ins Wasser gehören. Mit einem richtigen Umgang könne man die Risiken jedoch stark ­minimieren. Anderes zeigt den geteerten Vorplatz, auf dem er seine Ge­bläsespritze auffüllt und reinigt. Eine Rinne im Asphalt leitet Restwasser in die Güllegrube.

«Von dort werden die Stoffe später wieder auf dem Feld ausgetragen – und im Boden abgebaut.»

Die Pflanzenschutzmittelspritze sei computergesteuert und somit sehr ­genau.

«Manchmal ist Chemie hilfreich»: Obstproduzent Stefan Anderes. (Bild: Lisa Jenny)

«Manchmal ist Chemie hilfreich»: Obstproduzent Stefan Anderes. (Bild: Lisa Jenny)

In der Landwirtschaft unterscheidet man zwischen biologischen und synthetischen Pflanzenschutzmitteln. Erstere basieren auf natürlichen Stoffen, Letztere auf künstlich hergestellten chemischen Verbindungen, die in der Natur nicht vorkommen. Biolo­gische Mittel werden gemäss dem Wasserforschungsinstitut der ETH (Eawag) in der Regel schneller und ohne pro­blematische Umbauprodukte abgebaut. Sie sind also weniger belastend für Boden und Wasser. Die grosse ­Ausnahme ist Kupfer. Das Metall ist im Biolandbau erlaubt. Es ist auch in der konventionellen Landwirtschaft beliebt, weil es günstig ist und gegen verschiedene Schädlinge wirkt.

Stefan Anderes verwendet sowohl biologische als auch synthetische Pflanzenschutzmittel. Auch schützt er seine Äpfel mit Nützlingen, etwa Ohrenschlüpfern, die Läuse oder Birnenblattsauger fressen.

«Pflanzenschutz ist nicht nur Chemie»,

sagt er. Chemie sei aber manchmal hilfreich. Wenn es etwa regne und eine Spritzung anstehe, setze er lieber auf ein synthetisches Mittel. Da dieses länger wirke, müsse man es weniger oft austragen. Kann sich Anderes vorstellen, auf Bioproduktion umzustellen? Er habe nichts gegen Bio, sagt Anderes. Doch er produziere letztlich für den Markt. Und dieser verlange vor allem günstige Äpfel. «Sie können sicher sein: Wenn die Nachfrage nach Bioprodukten gross genug wäre, würden hier reihenweise Produzenten umsteigen.» Er zeigt in Richtung Hinterland, wo sich eine Apfelanlage an die andere reiht.

Die «Schizophrenie des Konsumenten»

Die Nachfrage nach Bioprodukten ist nach wie vor begrenzt. 2018 waren zehn Prozent der Lebensmittel in der Schweiz biologisch angebaut. Für Obst ist der Markt laut Branchenkennern derzeit gesättigt. «Wir beobachten, dass der Druck der Grossverteiler auf die Biobauern steigt », sagt Urs Müller, Leiter Obst, Gemüse und Beeren beim BBZ Arenenberg. Das sei ein Indiz dafür, dass das Angebot die Nachfrage oft übersteige. Selbst wenn Produzenten biologisch anbauen wollten, ökonomisch lohne sich der Wechsel derzeit wenig. Besonders gestiegen seien die Anforderungen an die Produkte. Während man vor zehn Jahren noch Äpfel mit Schorfflecken verkaufen konnte, müssten die Früchte heute perfekt aussehen. Müller spricht in diesem Zusammenhang von der «Schizophrenie des Konsumenten»: Einerseits wolle jeder eine makellose Wasserqualität in den Bächen, andererseits auch möglichst günstige Äpfel, die dann auch noch einwandfrei aussehen.

Wie aber lässt sich das Konsumentenverhalten ändern? Eine viel diskutierte Möglichkeit ist eine Lenkungsabgabe auf Pflanzenschutzmittel. Somit würden jene Äpfel teurer, die mit mehr Pflanzenschutzmitteln produziert wurden. SP, GLP und Grüne sowie Umweltverbände und verschiedene Kantone – darunter auch die beiden Appenzell und Thurgau – forderten in der kürzlich durchgeführten Vernehmlassung zur «Agrarpolitik 2022+», dass eine solche Lenkungsabgabe vom Bundesrat geprüft wird. Gegner argumentieren, man verlagere damit das Problem ins Ausland. Äpfel, die teurerer sind, weil Pflanzenschutzmittel mehr kosten, würden Äpfel aus dem Ausland attraktiver machen.

Geht Obstbau ohne Pestizide?

Nicht alle Produzenten lassen sich allein von der Ökonomie leiten. Ueli Halter betreibt einen Hof in Schönholzerswilen. In seiner Apfelanlage hängen auch Früchte, die er nicht einmal vermosten kann. Wegen eines Lausbefalls sind sie nicht grösser als Pingpongbälle. Statt zu spritzen nimmt Halter auch mal einen Ausfall von zehn Prozent hin. Seinen Hof hat er in den 1990er-Jahren auf Bio umgestellt. «Die Abhängigkeit von der Chemie ging mir gegen den Strich.»

Will nicht von Chemie abhängig sein: Bio-Bauer Ueli Halter. (Bild: Lisa Jenny)

Will nicht von Chemie abhängig sein: Bio-Bauer Ueli Halter. (Bild: Lisa Jenny)

Tatsächlich wird im Obstbau von allen Kulturen schweizweit in Tonnen gemessen am meisten Pflanzenschutzmittel pro Hektare eingesetzt. Doch selbst wenn man die gesamte Produktion auf Bio umstellen würde, so würde man in diesem Bereich der Landwirtschaft gerade 20 Prozent an Mitteln einsparen. Das zeigen Berechnungen der Forschungsstelle für biologischen Landbau (FiBL). Diese Zahl müsse man aber stark relativieren, sagt Lucius Tamm, stellvertretender Direktor des FiBL. «Im Biolandbau setzt man keine chemischen-synthetischen Pflanzenschutzmittel ein. Und man setzt in der Regel auf robuste Sorten. So kann man den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zusätzlich reduzieren.» Warum aber ist in der biologischen Landwirtschaft das Schwermetall Kupfer noch immer erlaubt? Tamm sagt:

«Das Mittel lässt sich nicht durch ein einziges biologisches Pflanzenschutzmittel ersetzen, weil es gegen viele verschiedene Krankheitserreger wirksam ist.»

Er forscht zu Substituten für das Metall, macht Experimente mit Lerchenrindenextrakt. «Wenn alles gut geht, kommen erste Ersatzprodukte in vier bis fünf Jahren auf den Markt», sagt er. «Frühestens.»

Ueli Halter würde am liebsten ganz auf Pflanzenschutzmittel verzichten. Das sei aber nicht möglich: «Obstbau, wie wir ihn kennen, ist stete Symptombekämpfung.» Vielleicht müsse man deshalb die Art, wie man Äpfel anbaue, grundsätzlich hinterfragen. «Seit Jahrzehnten pflanzen wir Niederstammbäume auf einer grünen Wiese in Reih und Glied.» Vielleicht müsse man sie zwischen anderen Kulturen gedeihen lassen und schauen, wie sie sich in der Natur behaupten. Halter ist sich sicher: Wenn es je möglich sein soll, ohne Pflanzenschutzmittel zu produzieren, dann nur mit einem Neuanfang.

Selbstregulierung oder Verbote?

(al) Dass der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln reduziert werden soll, darüber ist man sich in Bern einig. Die Frage ist, wie. Der Bauernverband setzt auf den Aktionsplan Pflanzenschutzmittel. Gemäss diesem soll zum Beispiel Unkraut künftig vermehrt mit Maschinen statt mit Herbiziden bekämpft werden. Auch will man durch verschiedene Massnahmen verhindern, dass mit Pflanzenschutzmitteln versetztes Wasser in die Kanalisation oder in Bäche gerät. Für linke und grüne Politiker sowie Umweltverbände geht der Plan zu wenig weit. Biosuisse bezeichnete ihn als mutlos.

Auf der anderen Seite der Umweltpolitischen Skala stehen die beiden Volksbegehren, die Pestizide verbieten oder an den Verzicht auf Direktzahlungen koppeln wollen. Die Initiativen werden vor allem von Umweltverbänden unterstützt. Bauernverbandspräsident Markus Ritter hat sie als «extrem wirtschaftsfeindlich» bezeichnet. Auch für SP, Grüne und GLP gehen die Initiativen zu weit. Sie setzten sich im Nationalrat für einen Gegenvorschlag ein, der nicht zu Stande kam. Die Initiativen kommen nun in den Ständerat. Inzwischen ist die Vernehmlassung für die Agrarpolitik des Bundes nach 2022 (AP 22+) durchgeführt worden. Sie hat das Ziel, die Rahmenbedingungen in den Bereichen Markt, Betrieb und Umwelt zu verbessern.