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Ostschweiz
Cristina Baldasarre ist ehemalige Spitzenathletin im Synchron-Eiskunstlaufen und Swiss Olympic Trainerin. Heute ist sie Fachpsychologin für Sportpsychologie FSP. Zu den mutmasslichen sexuellen Übergriffen eines Trainers am Leistungszentrum für Kunstturnen in Wil sagt sie: «Das Schlimmste ist die psychologische Abhängigkeit. Die Kinder sind mehr in der Trainingshalle unterwegs, als mit der Familie zusammen.»
Cristina Baldasarre, Sie waren selber Team-Leistungssportlerin: Sind Übergriffe im Spitzensport häufiger als in anderen Bereichen?
Das lässt sich nicht sagen. Im Spitzensport ist man aber abhängiger als in andern Bereichen.
Abhängiger, warum?
In der Schweiz gibt es im Kunstturnen einen Leistungstrainer in den Regionalen Leistungszentren (RLZ) und pro Stufe einen Nationaltrainer in Magglingen. Wenn ich nun mit dem nicht auskomme, kann ich nicht auf diesem Niveau turnen. Ich kann nicht in ein anderes Regionalzentrum ausweichen.
Es gibt also ein klares Machtgefälle?
Ja, unbedingt. Nicht nur im Kunstturnen, auch in anderen Sportarten.
Kunstturnen ist eine körperbetonte Sportart: Ist hier die Gefahr eines Missbrauchs besonders gross?
Ja, weil man sich am Körper berühren muss. Man kann es allerdings auch anders lösen: Der Balletttrainer in Magglingen berührt die Mädchen nur noch mit einem Stab, um sie zu führen. Das macht alles komplizierter, aber es ist korrekter.
Können sich Sportlerinnen und Sportler diesem Machtgefälle entziehen?
Nein. Oft ist es so, dass Kinder oder Eltern vieles wissen oder erahnen und dennoch zu lange schweigen und weiter mitmachen, weil ihr Kind sonst nicht mehr weiter gefördert wird.
Wer steht da in der Verantwortung?
Als Erziehungsberechtigte sind das klar die Eltern. Sie sind die Ansprechpersonen für das Kind. Sie und die Gspänli bekommen, wenn überhaupt, den Missbrauch am ehesten mit.
Was in Wil geschieht, ist demnach nicht aussergewöhnlich?
Das kann man so nicht sagen. Aber es kommt immer wieder vor – mit Nuancen. Es gibt nicht nur sexuelle, häufiger sind psychische Missbräuche. Und es sei wieder gesagt: Die meisten sexuellen Missbräuche kommen in Familien vor, nicht im Sport.
Das heute 17-jährige mutmassliche Missbrauchsopfer hat eineinhalb Jahre lang über den angeblichen Missbrauch geschwiegen: Warum trauen sich junge Frauen nicht früher, über solche Erlebnisse zu reden?
Solche Erlebnisse sind einschneidend, machen Angst und sind verwirrend. Das Opfer muss das zuerst einordnen können. Das eigene Schamgefühl ist verletzt, die eigene Person, die Intimsphäre. Die Opfer können das nicht einfach andern Personen erzählen. Schlimm in solchen Abhängigkeitsverhältnissen sind die Loyalitätskonflikte. Die sind extrem gross – auch gegenüber dem Trainer, dem das Opfer stets vertraut hat. Kommt dazu: Wer sich illoyal verhält, wird ausgestossen, hat stets ein schlechtes Gewissen, «es» verraten zu haben.
Die Jugendliche hat sich geoutet, fühlt sich aber alleingelassen: Statt seitens der Eltern der andern Turnerinnen Solidarität zu erfahren, wird sie offen der Lüge bezichtigt. Kann nicht sein, was nicht sein darf?
Genau. Die andern Eltern stecken ebenfalls in einem Loyalitätskonflikt. Wer den Trainer nicht mehr will, macht die mutmassliche Karriere der eigenen Tochter kaputt. Damit fehlt der Erfolg – auch der kommerzielle, das Prestige, der Medienrummel.
Die Eltern wurden vom Vorstand per Mail informiert, dass der Cheftrainer freigestellt wurde. Die Rede war von einem Vertrauensbruch. Was nun ans Licht kommt, lässt allerdings andere Dimensionen vermuten. Hätte der Vorstand anders reagieren müssen?
Das ist schwer zu sagen. Brisante Themen sind heikel, egal wie man es macht. Jeder kann das auslegen wie er will. Wenn ich dem Trainer, dem ich bisher vertraut habe, in den Rücken falle und zum Opfer halte, dann heisst das unter Umständen auch, dass ich etwas hätte ahnen können. Damit werde ich mitschuldig.
Die andern Mädchen, die in der Spitzengruppe trainieren, sind gefühlsmässig mitbetroffen. Müssten sie nicht psychologisch betreut werden?
Ich finde schon. Es kann nicht sein, dass alle nichts mitbekommen haben. Hochwahrscheinlich ist, dass die Kolleginnen etwas geahnt haben, eventuell selber ähnliche Erlebnisse gehabt haben oder Angst davor, etwas zu sagen, wenn da etwas gewesen ist. Diese Verstrickungen sind schwierig aufzudecken. Die Kinder haben das Gefühl, schuldig zu sein: Das ist unglaublich schambehaftet.
Für den Cheftrainer der Frauen gilt die Unschuldsvermutung. Der Vorstand ist daher im Dilemma: Er muss die Turnerin, aber auch den Trainer schützen, bis der Sachverhalt abgeklärt ist. Wie geht er richtig vor?
Der Trainer ist weg, die Frau krankgeschrieben: Das ist richtig. Es braucht jetzt sicher Betreuungsmöglichkeiten. Zu beurteilen ist auch, ob es richtig ist, dass die 17-jährige Turnerin noch in der Spitzengruppe weiter trainiert: Sie ist im Moment das schwarze Schaf.
Im Moment?
Ist an den Vorwürfen etwas dran, wird sie im nächsten Moment die Heldin sein, die sich traute etwas zu sagen.
Wer unterstützt Turnvereine in solchen psychologischen Notsituationen?
Dafür gibt es keinen Standard. Vielleicht gibt es einen Sportpsychologen oder eine Mentaltrainerin, die verfügbar sind. Sonst muss der Verein jemanden suchen.
Trainer sind Vertrauenspersonen, der Umgang mit Turnerinnen setzt im körperbetonten Kunstturnen eine gewisse Nähe voraus: Gab es schon andere Fälle in der Schweiz, wo sexuelle Übergriffe bekannt wurden?
Leider liest man immer wieder darüber in den Medien. Aus anderen kompositorischen Sportarten mit künstlerischem Ausdruck wie Kunstturnen, Synchronschwimmen, Eiskunstlaufen oder Rhythmische Gymnastik ist mir zumindest ein Fall persönlich bekannt.