Der Schweiger vom Säntis

Es wird ein Abschied vom Berg ohne Sentimentalitäten. «Gerade rührselig darfst du hier oben nicht sein», sagt Willy Kobler. 41 Jahre lang hat der St. Galler auf dem Säntis gearbeitet. Ende August geht er zurück ins Tal – nicht ungern, obwohl er seine Arbeit liebt.

Christoph Zweili
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Willy Kobler am Fuss des Sendeturms. – Die exponierte Lage des Säntis sorgt für extreme Wetterbedingungen. – Der Wetterwart in seinem Zimmer (von links). (Bild: Benjamin Manser (Benjamin Manser))

Willy Kobler am Fuss des Sendeturms. – Die exponierte Lage des Säntis sorgt für extreme Wetterbedingungen. – Der Wetterwart in seinem Zimmer (von links). (Bild: Benjamin Manser (Benjamin Manser))

«Noch neun Touren, dann ist Schluss!» Willy Kobler, bald 62, steht mit gepackter Reisetasche in der 85-Personen-Kabine der Säntis-Schwebebahn. Seine Schicht auf dem Ostschweizer Hausberg ist zu Ende: Viereinhalb Tage war er hier oben, jetzt hat er dreieinhalb Tage frei. Diese Abfolge wiederholt sich seit 41 Jahren, seit er mit 22 von der Bahnpost zur Swisscom Broadcast AG gewechselt hat. «Wenn du hier oben arbeitest, muesch e chli en komische Typ si. Ein Vereinsleben kannst du vergessen.» Heute fährt der «Technical Specialist» mit dem Kabinenführer allein zu Tal. Mit acht Metern pro Sekunde geht's vom Säntisgipfel hinunter zur Schwägalp, im Blick das neue Hotel, das Ende November eröffnet wird. Kobler ist dann bereits mit seiner BMW 1200 Adventure in Namibia unterwegs.

Sein Arbeitsort auf dem Säntis ist einer der schönsten der Schweiz. Kommt der grossgewachsene St. Galler vom Tal, berührt er drei Kantonsgrenzen auf dem Weg zur Wetterstation auf dem Berggipfel: Die Bahneinfahrt liegt auf Hundwiler Boden, ist also im Ausserrhodischen. Die grosse Halle der Säntisbahn gehört zur St. Galler Gemeinde Wildhaus und das Haus der Wetterwarte steht im Innerrhodischen.

Der letzte «echte» Wetterwart

Im Herbst 1882 war hier die erste Wetterstation in Betrieb genommen worden. 1969 hatte der letzte «echte» Wetterwart den Säntis verlassen, die Wetterwarte wurde automatisiert. «Bis 1980 haben wir dann noch regelmässig die Daten abgelesen und in ein Buch eingetragen, die Geräte gewartet und vom Schnee befreit», sagt Kobler.

Heute ist von der Romantik der Säntis-Wetterwarte nichts mehr übrig. Die Swisscom-Mitarbeiter lesen noch fünfmal täglich visuell das Wetter ab: Im Zehn-Minuten-Takt gehen seither die Daten für Lufttemperatur, -feuchtigkeit, -druck, die Niederschlagssumme, Sonnenscheindauer und -einstrahlung, Windrichtung und Geschwindigkeit sowie Radioaktivität zu Meteoschweiz nach Zürich. Und von dort als Teil eines globalen Netzwerks um die ganze Welt.

Schauer, Gewitter, Temperaturstürze: Das Wetter auf dem freistehenden 2502 Meter hohen Alpengipfel ist launisch. Und aufgrund des West-Südwest-Windregimes rauher als im Landesinnern. Das hat Kobler zu einem Mann geformt, der mit wenig Worten auskommt. Kaffeesatzlesen sei nicht seins, sagt er trocken: «Wenn es hier nach Schnee riecht, heisst das noch lange nicht, dass es schneien wird.»

Der Berg sei für ihn bestimmt gewesen. Davon ist der St. Galler überzeugt. Am Tag, als Willy Kobler auf die Welt kam, stolperte seine Grossmutter auf dem Lisengrat und brach sich den Arm. Das ist eine der wenigen Episoden, die der grossgewachsene Mann von sich aus erzählt. Sonst aber gibt er sich wortkarg. Einsamkeit auf dem Berg? «Wir sind ja zu zweit.» Heimweh? «Kenne ich nicht.» Das Säntiswetter? «Macht mir nichts aus.» Romantik? «Gibt es nicht.»

Dann aber gibt er doch noch preis, dass es hier oben jeden Monat einmal schneit – «das ganze Jahr über». Und dass der Schneefall früher intensiver gewesen sei als heute. Einmal sei selbst ihm «gschmuch» geworden, als er auf einer Fahrt ins Tal von Sturmböen mit 165 Kilometern pro Stunde überrascht worden sei. Er habe sich in der Kabine mit dem Seil gesichert. Als er gesehen habe, dass sich auf der anderen Bahnseite das Rettungsseil um das Tragseil gewickelt habe, da habe er die Talstation alarmiert. Und sei mit seiner Kabine wieder zum Berg hochgefahren.

«Wie in einem Mikrowellenherd»

Es gäbe wohl noch viele andere Säntisgeschichten. Etwa von Warten, die vor der Inbetriebnahme der Säntisbahn 1935, abgeschlossen von der Aussenwelt, monatelang auf der Wetterstation hoch oben auf dem Gipfel des Säntis ausharrten und weinten, als im Frühling wieder die ersten Säntisträger vom Tal heraufstiegen. Auch Heinrich Haas und seine Frau Maria Magdalena blieben 1922 auf dem Berg. Als im Tal plötzlich die Wetterberichte ausblieben, erklommen die Träger den eingeschneiten Berggipfel und fanden die Leichen des Ehepaars. Vom Täter fehlte jede Spur. Drei Wochen später erhängte sich der Schustergeselle Gregor Anton Kreuzpointner, der selbst Wetterwart werden wollte, in einer Alphütte in Urnäsch.

Heute schläft Willy Kobler am Ort, wo der Mord geschah, unter der alten Wetterwarte. Ihm macht das nichts aus. Hinter dem Eingang gibt eine Falltür die steile Treppe frei. Dann ein kurzer Gang. Als Ältester der neunköpfigen Mannschaft, die auf dem Säntis stets zu zweit ihren Schichtdienst leistet, hat er ein eigenes Zimmer. Ein Bett, ein grosser Fernseher, eine Holzuhr, ein paar Kochbücher im Regal, Poster von schweren Motorrädern. Das ist Koblers kleines Reich. Es ist unterirdisch verbunden mit den Anlagen der Swisscom. Ein Felslabyrinth, verteilt über 13 Stockwerke. Mitten drin das Fundament des 123 Meter hohen Sendeturms, 4000 Tonnen verbauter Eisenbeton. Auch Journalisten dürfen nicht in diese Nadel aus glasfaserverstärktem Kunststoff. Sie ist im oberen Drittel beheizt, damit das Eis abschmelzen kann. Bis in 80 Meter Höhe wäre das Treppensteigen im Innern an sich ungefährlich, da ist die Sendeleistung minimal. «Aber weiter oben begänne das Blut zu kochen», sagt Kobler. «Das ist wie in einem Mikrowellenherd.»

Wetterbeobachter, Bähnler, Schlosser, Schreiner und Maler: Kobler bezeichnet sich auch noch als höher gestellten Hauswart. Zu seinen Aufgaben gehört die Wartung der Radio- und Fernsehanlagen, Reparaturen aller Art, das Kontrollieren von Heizungen, Klimaanlagen und Dieselgeneratoren, Störungsbehebungen, aber auch Führungen. Zwei hat er am Samstag gehabt, «die letzten». Der Wetterwart auf dem Säntis ist ein Auslaufmodell. Schon bei Stellenantritt hat Willy Koblers Arbeitgeber angekündigt: «Wir wissen nicht, wie lange du hier noch arbeiten wirst.» Das war vor 41 Jahren.

SÄNTISGIPFEL, APPENZELL INNERRHODEN: Der 123 Meter hohe Sendeturm mit dem Wetterhaus auf dem Säntisgipfel. [31.05.2015] © Benjamin Manser / TAGBLATT (Bild: Benjamin Manser (Benjamin Manser))

SÄNTISGIPFEL, APPENZELL INNERRHODEN: Der 123 Meter hohe Sendeturm mit dem Wetterhaus auf dem Säntisgipfel. [31.05.2015] © Benjamin Manser / TAGBLATT (Bild: Benjamin Manser (Benjamin Manser))

Legende (Bild:)

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Auf dem Weg hinunter ins Tal – Willy Kobler fährt nach viereinhalb Tagen Schicht auf dem Säntis nach Hause. (Bilder: Benjamin Manser)

Auf dem Weg hinunter ins Tal – Willy Kobler fährt nach viereinhalb Tagen Schicht auf dem Säntis nach Hause. (Bilder: Benjamin Manser)