Medikamentenversuche im Thurgau der Achtzigerjahre: Der Pillentester von St.Katharinental – und wie die Behörden den Kantonsarzt schonten

Im Jahr 1986 haben Medikamentenversuche an unwissenden Patienten im Thurgau einen Skandal ausgelöst. Danach führte er als erster Kanton eine medizinisch-ethische Kommission ein, die Medikamentenversuche genehmigen musste.

Thomas Wunderlin
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Der Direktor von St. Katharinental verlor 1987 wegen seiner Medikamentenversuche seine Stellung.

Der Direktor von St. Katharinental verlor 1987 wegen seiner Medikamentenversuche seine Stellung.

Reto Martin

Der Thurgauer Sanitätsdirektor Arthur Haffter wandte sich am
9. Dezember 1985 mit einem Rundschreiben an die drei kantonalen Kliniken. Als Vizepräsident der Interkantonalen Kontrollstelle für Heilmittel habe er vor kurzem erfahren, dass an Schweizer Spitälern «Medikamente im Versuchsstadium» abgegeben würden. Dies könne «gelegentlich zu einem ‘Politikum’» werden, fürchtete der freisinnige Regierungsrat und zog den Vergleich zu «Emotionen bei Tierversuchen».

Von den Thurgauer Kliniken wollte Haffter wissen, ob ihre Patienten die Zustimmung zu den Versuchen erteilt hätten, falls solche durchgeführt würden, und ob die Medikamentenhersteller dafür bezahlten.
Beim Verfassen liess sich Haffter von Kantonsarzt Hans Schenker beraten.

Arthur Haffter, ehemaliger Regierungsrat, 2003.

Arthur Haffter, ehemaliger Regierungsrat, 2003.

Mario Tosato

Das Rundschreiben ging an die beiden Kantonsspitäler in Frauenfeld und in Münsterlingen und an die Psychiatrische Klinik in Münsterlingen, nicht jedoch an das von Schenker geleitete Heim St. Katharinental. Schenker vermied es, seinen Vorgesetzten darüber zu informieren, dass er seit bald 15 Jahren Medikamentenversuche an den Heimbewohnern in St. Katharinental durchführte, ohne diese um ihr Einverständnis zu bitten.

Nicht nur in Münsterlingen Versuche

In der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen waren unter dem früheren Direktor Roland Kuhn während Jahrzehnten Medikamentenversuche unternommen worden. 1985 war Kuhn bereits in Pension. Kuhns Versuche wurden erst zum Skandal, als 2012 bis 2014 Medienberichte über Medikamentenversuche an Zöglingen des Kinderheims St. Iddazell in Fischingen erschienen.

2015 beauftragte der Thurgauer Regierungsrat ein Forscherteam unter Leitung der Zürcher Historikerin Marietta Meier, die Münsterlinger Medikamententests historisch zu untersuchen. Als Resultat erschien 2019 das Buch «Testfall Münsterlingen, Klinische Versuche in der Psychiatrie 1940-1980».

Marietta Meier stellt den Untersuchungsbericht über die Münsterlinger Medikamentenversuche vor.

Marietta Meier stellt den Untersuchungsbericht über die Münsterlinger Medikamentenversuche vor.

Andrea Stalder

Im Schlusswort weisen die Autoren explizit daraufhin, dass klinische Versuche mit psychoaktiven Stoffen nicht nur in Münsterlingen, sondern auch an zahlreichen anderen Institutionen der Schweiz stattfanden. Darüber sei jedoch bislang wenig geforscht worden.

In «Testfall Münsterlingen» selber wird eine weitere Thurgauer Institution erwähnt, die Medikamentenversuche betrieb: St. Katharinental. In den aktuellen Medienberichten über «Testfall Münsterlingen» waren sie bisher kein Thema. Die Historikergruppe um Marietta Meier bezog ihre Informationen über die «Affäre Schenker» aus einer unveröffentlichten Bachelorarbeit. Deren Autor, Niklaus Müller, hat sie auch dieser Zeitung zur Verfügung gestellt.

Niklaus Müller

Historiker
PD

Historiker

Als erster Historiker hat Niklaus Müller den Fall Schenker untersucht. Seine 38-seitige Bachelorarbeit «Das Disziplinarverfahren gegen den Thurgauer Kantonsarzt Hans Schenker im Jahr 1986 und seine Folgen» verfasste er 2018 auf Vorschlag von Titularprofessorin Marietta Meier. Müller, Jahrgang 1992, ist in Zürich aufgewachsen. Zurzeit ist er Student und Hilfsassistent im Master Geschichte und Philosophie des Wissens an der ETH Zürich. (wu)

Eine kritische Arzthelferin bringt den Skandal ins Rollen

St. Katharinental, eine barocke Klosteranlage am Rhein bei Diessenhofen, diente nach 1871 als «Kranken- und Greisenasyl». 1966 wurde es zum Alters- und Pflegeheim für fünfzig als geistesschwache und geisteskranke eingestufte Patienten umgewandelt.

In der Amtszeit Schenkers wurde es 1973 bis 1976 zum Alters- und Pflegeheim mit 200 Plätzen erweitert. Heute ist St. Katharinental eine Rehaklinik unter dem Dach der Spital Thurgau AG.
Im Unterschied zu Kuhn befand sich Schenker noch am Leben und sogar im Amt, als seine Medikamentenversuche zum Skandal wurden.

Ins Rollen gebracht wurde dieser von einer Arztgehilfin und Laborantin in St. Katharinental. Sie hatte ihre Stelle im Oktober 1985 angetreten. Am 18. März 1986 informierte sie Regierungsrat Haffter über die in St. Katharinental laufenden Patientenversuche. Sie sagte gemäss Protokoll der anschliessenden Untersuchung:

«Ich betrachte die Art des Vorgehens mit diesen Versuchen an nicht mehr Urteilsfähigen und demgemäss hilflosen Patienten als Missbrauch.»

Einen Monat später wurde Schenker im Büro des Sanitätsdirektors über die Beschuldigungen gegen ihn informiert: Die Medikamentenversuche an sich, die fehlende Zustimmung der Patienten, die Übermittlung teilweise gefälschter Untersuchungsergebnisse an die Auftraggeber und schliesslich die Nutzung von Infrastruktur und Personal der kantonalen Anstalt bei gleichzeitigem Bezug der Entschädigungen für sich selbst. Die laufenden Medikamentenversuche wurden gestoppt.

Der Regierungsrat beauftragte Staatsschreiber Charles Maurer, einen ehemaligen Staatsanwalt, mit einem Disziplinarverfahren. Wie die Autoren von «Testfall Münsterlingen» kommentieren, verlief das Verfahren «äusserst diskret, ganz auf eine Schonung Schenkers ausgerichtet».

Haffter fühlte sich «persönlich schwer getroffen», dass Schenker ihm gegenüber die eigenen Versuche verschwiegen habe. Dies vor allem, weil er zu Schenker «ein ausgesprochenes Vertrauensverhältnis» gehabt habe.
Von den Kliniken in Frauenfeld und Münsterlingen hatte Haffter auf sein Rundschreiben «beruhigende» Antworten erhalten.

Kantonsarzt, Heimdirektor, Stadtrat

Hans Schenker (1926-2000) leitete ab 1964 mit einem 40-Prozent-Pensum das Heim St. Katharinental. Der gebürtige Schaffhauser amtierte ab 1959 dreizehn Jahre lang als Stadtrat von Diessenhofen, wo er eine Hausarztpraxis führte. Diese gab er auf, als er 1979 Thurgauer Kantonsarzt mit einem 60-Prozent-Pensum wurde.

Kantonsarzt Hans Schenker in der «Thurgauer Zeitung».

Kantonsarzt Hans Schenker in der «Thurgauer Zeitung».

Reto Martin

Als Schenker 1985 Präsident der Vereinigung der Schweizer Kantonsärzte wurde, witzelte Regierungsrat Haffter, Schenker sei nun bei den Kantonsärzten dasselbe, was Winnetou unter den Apachen sei. Schenkers Vitalität und Dynamik wurden in den «Schaffhauser Nachrichten» als sprichwörtlich bezeichnet; mit seiner «scharfen und umfassenden Intelligenz» könne er auch sehr kantig sein.

Wie Roland Kuhn verkörperte Schenker den Typus des autoritären Arztes, der sich nicht verpflichtet fühlt, sein Handeln gegenüber Mitarbeitern und Patienten zu rechtfertigen. So störte sich eine Pflegerin in St. Katharinental an der Vielzahl von Medikamenten, weil sie den Patienten nicht erklären konnte, wozu diese gut waren.

Keine Untersuchung auf Gefährdung von Leib und Leben

Staatsschreiber Maurer holte beim Gerichtlich-medizinischen Institut (GMI) der Universität Bern ein Gutachten über Schenkers Medikamentenversuche ein. Anfangs sollte es auch eine allfällige Gefährdung von Leib und Leben der Patienten untersuchen. Diese Fragestellung wurde dann auf die «abstrakte Frage einer möglichen Gefährdung» eingeschränkt.

Das GMI riet, die Fragen «möglichst eng und präzis» zu stellen, da der Aufwand sonst zu gross würde. Maurer hätte den Bericht nicht in der Frist von drei Monaten abliefern können, die ihm der Regierungsrat gesetzt hatte. Untersucht wurden zudem nur die 15 Versuche zwischen 1980 bis 1986, nicht aber jene im Jahrzehnt davor.

Charles Maurer, ehemaliger Staatsschreiber, 2003.

Charles Maurer, ehemaliger Staatsschreiber, 2003.

Nana do Carmo

Denn für disziplinarische Untersuchungen galt eine Verjährungsfrist von fünf Jahren. Laut Müller, dem Autor der Bachelorarbeit, war dies «rechtlich heikel». Denn wenn es um Straftaten ging, galt deren Verjährungsfrist. Das Disziplinarrecht liess aber offen, inwiefern die Behörden in einem Disziplinarverfahren Tatbestände ausserhalb der disziplinarrechtlichen Verjährung selbstständig aufspüren sollten.

Maurer ging ohnehin davon aus, dass Straftatbestände gegen Leib oder Leben unwahrscheinlich waren. Damit stellte er die Weichen für die späteren strafrechtlichen Untersuchungen, in denen es nicht mehr um eine allfällige unverantwortliche Gefährdung der Patienten ging, sondern nur noch um Urkundenfälschung und ungetreue Amts- und Geschäftsführung.

Cilag Schaffhausen war die wichtigste Auftraggeberin

Bei den vom GMI untersuchten Studien ging es um Medikamente der Basler Pharmafirmen Sandoz, Ciba-Geigy und der britsch-deutschen Beecham-Wülfing GmbH. Allein fünf Aufträge kamen von der Schaffhauser Cilag Chemie AG. Unter anderem handelte es sich um Antidepressiva, Antirheumatika, allgemeine Stärkungsmittel, auch um ein Antidementivum. Untersucht wurden speziell die Verträglichkeit und Wirksamkeit der Arzneimittel bei geriatrischen Patienten.

Nachdem das GMI-Gutachten keine «konkreten Hinweise auf eine Gefährdung an Leib oder Leben» der Patienten ergab, schrieb Maurer an Haffter: «Diese Expertise gibt uns nun im Hinblick auf allfällige Gefährdungen der Gesundheit der Patienten ‘volle Deckung’. Vor allem im Falle eines ‘Rummels’ in der Presse und den Medien wird sie für uns von grosser Bedeutung sein.»

Gemäss einer Korrespondenz zwischen Sandoz und Schenker hatte sich Schenker gegen den Abbruch eines Versuchs mit einem Psychogeriatrikum gewehrt. Es sollte im Vergleich mit einem Antidepressivum und einem Placebo getestet werden. Bei Rattenversuchen mit derselben Substanz waren Tumore aufgetreten.

Schenker wollte bei Mitarbeitern und Patienten kein Misstrauen wecken, «das sich auf weitere klinische Prüfungen sehr ungünstig auswirken könnte». Diese Quelle weckt gemäss Müller erhebliche Zweifel daran, ob Schenker stets seiner Sorgfaltspflicht nachgekommen war, und auch daran, ob die GMI-Gutachter mit dem vorhandenen Material kritisch genug um gingen.

Als grobe Verfehlung taxiert

Gemäss Maurers Schlussbericht vom 28. Juli 1986 war Schenker der Informations- und Sorgfaltspflicht bei den Medikamentenversuchen nicht ausreichend nachgekommen. Schenker hatte sich nicht an die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) gehalten, die auch von der Interkantonalen Kontrollstelle für Heilmittel bekräftigt wurden.

Diese verlangten, dass ein Untersuchungsleiter das Recht jedes Menschen auf geistige und körperliche Unversehrtheit zu respektieren hat, besonders wenn er «in einem Abhängigkeitsverhältnis zu dem Leiter der Untersuchung steht». Von den urteilsfähigen Patienten hatte Schenker kaum je Einverständniserklärungen eingeholt, von den Rechtsvertretern der urteilsunfähigen Patienten überhaupt nie.

Dem Regierungsrat gelang es nicht, die Affäre unter dem Deckel zu halten.

Dem Regierungsrat gelang es nicht, die Affäre unter dem Deckel zu halten.

Reto Martin

Für Maurer handelte es sich um eine «grobe Verfehlung». Sie vertrage sich schlecht mit Schenkers Behauptung, die Untersuchungen seien stets auch zum Wohle der Patienten selbst geschehen. Maurer stellte fest, dass Schenker im Untersuchungszeitraum Einnahmen von über 380000 Franken hinterzogen hatte, was Schenker sofort anerkannte.

Regierungsrat erteilte nur einen Verweis

Der Regierungsrat entschied sich am 16. September 1986 für die mildeste von sechs möglichen Disziplinarmassnahmen. Er sprach einen Verweis aus, und behielt sich weitere Massnahmen vor, in Abhängigkeit von den Ergebnissen des laufenden Strafverfahrens.

Damit wurde mindestens vorerst Schenkers Wunsch erfüllt, bis zu seiner Pensionierung in vier Jahren seine Aufgabe weiterführen zu dürfen. Die Arztgehilfin, die Haffter informiert hatte, sah sich gezwungen, eine neue Stelle zu suchen. Ihre mutige Aktion wurde ihr nie verdankt. Stattdessen wurde ihr ein Schweigeversprechen abgenommen, das laut Müller «seltsam unpassend» wirkt, denn die Vorwürfe gegen Schenker tangierten das Arztgeheimnis in keiner Weise.

Über das Disziplinarverfahren informierte der Regierungsrat weder die Öffentlichkeit, noch den Grossen Rat oder die Aufsichtskommission über die Krankenanstalten. Als die «Schaffhauser Nachrichten» im April 1986 davon Wind bekamen, konnte sie Haffter mit der Behauptung bremsen, er werde darüber informieren, «falls sich eine Orientierung nötig erweise». Haffter musste fürchten, dem Sanitätsdepartement werde die Vernachlässigung seiner Aufsichtspflichten vorgeworfen.

Das Obergericht reduziert die Strafe auf 15 Monate bedingt

Möglicherweise wäre die Affäre spätestens mit dem Gerichtsverfahren publik geworden. Das Bezirksgericht Diessenhofen verurteilte Schenker am 19. März 1988 zu einer Gefängnisstrafe von 26 Monaten und einer Busse. Das Urteil lautete auf wiederholten Betrug, ungetreue Geschäftsführung, wiederholte ungetreue Amtsführung, wiederholte und fortgesetzte Urkundenfälschung und den vollendeten Versuch der Anstiftung hinzu.

Das Thurgauer Obergericht reduzierte die Strafe am 1. September 1989 auf 15 Monate bedingt; es sprach Schenker vom Vorwurf der ungetreuen Geschäftsführung frei und auch von der Anklage der ungetreuen Amtsführung. Das Obergericht kam zum Schluss, dass das Sanitätsdepartement eigentlich von Schenkers Forschungstätigkeit hätte wissen sollen.

So hatte Haffters Vorgänger, SP-Regierungsrat Alfred Abegg, Schenkers klinische Medikamentenversuche am 19. Dezember 1979 in der Hauszeitung der kantonalen Verwaltung erwähnt. Schenker habe auch regelmässig Kopien der publizierten Studien dem Sanitätsdepartement zugestellt.

Der spätere SP-Ständerat bringt die Affäre an die Öffentlichkeit

Noch vor dem Gerichtsverfahren machte SP-Kantonsrat Thomas Onken die Affäre öffentlich, was zu seiner Wahl zum Ständerat eine Jahr später beigetragen haben dürfte. Am 17. November 1986 reichte Onken mit 16 Mitunterzeichnern eine Interpellation ein, in der er vom Regierungsrat rückhaltlos Auskunft über Schenkers Patientenversuche verlangte.

SP-Ständerat Thomas Onken, 1997.

SP-Ständerat Thomas Onken, 1997.

PD

Die Thurgauer Zeitungen meldeten die Interpellation Onkens auf der Frontseite. Auch die «Neue Zürcher Zeitung» und das «Journal de Genève» veröffentlichen kurze Artikel. Zwei Tage später legte Onken einen Fragekatalog nach. Unter anderem wollte er wissen, wie ernst die Regierung den Grossen Rat, formell die oberste Behörde des Kantons, nehme. Er legte nicht offen, woher er seine detaillierten Informationen hatte.

Der Grosse Rat sei nicht informiert worden, weil ein «Gefährdungstatbestand» ausgeschlossen worden sei, erklärte Haffter am 27. November 1986 im Grossen Rat. Er stellte einen besseren Rechtsschutz für die Patienten im Rahmen des kommenden Gesundheitsgesetzes in Aussicht. Niklaus Müller, der die Affäre Schenker untersuchte, zieht das Fazit:

«Alles in allem verteidigte
sich Haffter erfolgreich.»

Das Publikum reagierte kaum. Haffter wunderte sich über das völlige Fehlen von Leserbriefen. Die SP versuchte, die Affäre medial weiterzuköcheln und erreichte damit schliesslich, dass Haffter beim neuen Patientenrecht ihre sämtlichen Forderungen erfüllte.

Schenker trat am 31. März 1987 von seinen Ämtern als Direktor des Alters- und Pflegeheim St. Katharinental und als Kantonsarzt zurück. Der damalige Präsident der Thurgauer Ärztegesellschaft, Alfred Muggli, kommentierte gegenüber der «Thurgauer Zeitung», der Rücktritt komme zu diesem Zeitpunkt überraschend und sicher nicht ohne besonderen Druck. Hans Schenker sei ein sehr guter Kantonsarzt, der immer Verständnis für die Anliegen der Ärzte habe.

Präsident der Ärztegesellschaft stellt sich vor Schenker

Muggli hatte Schenker schon in einem Interview mit der «Schweizerischen Bodensee-Zeitung» am 21. November 1986 als «guten, speditiven Kantonsarzt» bezeichnet. Schenker habe die Ergebnisse seiner Versuche in den Fachzeitschriften veröffentlicht. Die meisten Ärzte im Kanton hätten davon gewusst. Jedes Medikament werde zuerst an freiwilligen Personen ausprobiert. Zu diesem Zeitpunkt kenne man die wichtigsten Wirkungen bereits.

Alfred Muggli, ehemaliger Präsident der Thurgauer Ärztegesellschaft, 2003.

Alfred Muggli, ehemaliger Präsident der Thurgauer Ärztegesellschaft, 2003.

Susann Basler

Er sei darum überzeugt davon, dass in St. Katharinental in keinem Moment Leben bedroht war durch Medikamente. «Auch ich nehme in einzelnen Fällen an solchen Versuchen teil», sagte Muggli. «So habe ich zum Beispiel für die Basler Pharmaindustrie ein Blutdruckmittel erprobt.» Die «negativen Publikationen» über Schenkers Versuche hätten dem Ansehen des Ärztestandes geschadet:

«Dabei ging es ja in erster Linie um die Profilierung eines Mannes oder einer Partei.»

Affäre Schenker bringt die Wende

Vor 1986 hatte sich öffentliche Kritik an Medikamentenversuchen nur gegen die «chemische Keule» gerichtet; dies betraf insbesondere die psychiatrischen Anstalten. Die ersten wichtigen ethischen Richtlinien waren aber schon im Nürnberger Kodex von 1947 enthalten, der nach den Menschenversuchen der Nationalsozialisten entstanden war.

Er besagte, dass die freiwillige Zustimmung der Versuchspersonen unbedingt erforderlich ist. Weiter ging 1964 die Deklaration von Helsinki des Weltärztebunds. 1970 erliess auch die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) Richtlinien für die Forschung am Menschen.

Rechtlich verpflichtend waren diese Erklärungen alle nicht. Es galt lediglich das Grundrecht auf körperliche und psychische Integrität. Der Münsterlinger Direktor Roland Kuhn bewegte sich bei seinen Versuchen deshalb offensichtlich im legalen Rahmen.  

Das änderte sich im Thurgau 1987 mit der Neuregelung der Patientenrechte, die der Regierungsrat stolz als die «wohl modernste der Schweiz» bezeichnete. Als erster Schweizer Kanton setzte der Thurgau eine medizinisch-ethische Kommission ausserhalb des universitätsklinischen Betriebs ein, welche die Zustimmung des Sanitätsdepartements einzuholen hatte.

Wissenschaftliche Versuche an urteilsunfähigen Personen waren rundweg verboten. Der Thurgau nahm in der Schweiz eine Vorreiterrolle ein. International war es anders. In den USA war die Konsultation einer interdisziplinären Ethikkommission seit 1974 verbindlich vorgeschrieben. (wu)