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Ostschweiz
Sascha Michael Campi hat vor sechs Jahren einen Mann getötet, als er mit seinem Auto in eine Menschengruppe in Zürich fuhr. Jetzt ist er im offenen Vollzug im Saxerriet. Über seine Haft und seine Tat hat er ein Buch geschrieben.
Quelle: AZ Medien / TalkTäglich
Da sitzt das Publikum und klatscht. Wie am Ende einer jeden Lesung, wenn es die Leistung des Autors würdigt. Und doch wirkt dieser Beifall vergangene Woche in Buchs auf eine Art deplatziert. Denn der Autor, Sascha Michael Campi, hat gerade erzählt, was in den Stunden passierte, bevor er einen anderen Mann getötet hat. Campi verbringt seine Haft mittlerweile im offenen Vollzug in der Strafanstalt Saxerriet in Sennwald. Im Winter kommen hier die Rothirsche hinab ins Tal auf der Suche nach Nahrung.
«Da stand ich also im Saxerriet, um mich herum keine Mauern mehr, anstelle dessen Berge, lauter Berge, die auf mich wie riesige Mauern wirkten, als wären es riesige Grenzmauern, die das Ende der Welt bedeuteten. Der offene Vollzug war mir anfangs komplett unangenehm, denn ich bin auch heute immer noch der Meinung, dass gewisse Menschen, und dazu zähle ich mich selbst, wie Tiger sind, und einen Tiger schliesst man entweder in einen Käfig oder man lässt ihn in die Freiheit, aber ihn an der Leine spazieren zu führen, geht nicht.»
So beschreibt Campi in seinem Buch «Vom Fuchs zum Wolf. Eine Milieu-Halbweltgeschichte» den Wechsel vom Gefängnis Pöschwies im Kanton Zürich nach Saxerriet vor bald einem Jahr. Das Cover zeigt ihn mit Sonnenbrille, T-Shirt und Tribal-Tattoos. Im Buch stellt er den «Oberweltlern», die Ausbildung, Beruf und ein Familienleben haben, die «Halbweltler» gegenüber.
«Menschen, die teil- oder vollzeitig im Nachtleben, sprich im Milieu, tätig sind. Es sind Menschen, die meist nie oder eher selten in ihrer Branche eine Ausbildung genossen haben und die auch nicht über den Businessplan eines 08/15-Lebens verfügen.»
Campi versucht, die Geschichte eines Kausalzusammenhangs zu erzählen. Die Geschichte eines Mannes, dessen Kindheit in einem Dorf im Kanton Solothurn «schön und mehrheitlich unkompliziert» war. Dem die Eltern – die Mutter gelernte Verkäuferin, dann im «Reinigungsdienst» tätig, der Vater Verkäufer für Whirlpools – viele Freiheiten gaben. Der später Anzeigenverkäufer wurde und parallel in Nachtlokalen arbeitete, dann eine Bar besass. Von einem, der im Zürcher Milieu an die falsche Prostituierte geriet, nach einem Streit mit ihr angetrunken in sein Auto stieg, auf der Busspur fuhr und, während er sein Handy suchte, in eine Menschenmenge. Ein 39-Jähriger starb noch auf der Unfallstelle, vier Personen wurden verletzt, zum Teil schwer, an diesem 10. Februar 2012. «Unfall oder Amokfahrt an der Langstrasse?», titelte der «Tages-Anzeiger», der Hintergrund war zunächst unklar. Der Unfall ereignete sich vor der Lambada-Bar, «Blick» machte aus Campi den «Lambada-Amok» und nennt ihn noch heute so – zu Campis Missfallen.
Das Bezirksgericht Zürich verurteilte ihn zu 15 Jahren Haft. Das Obergericht Zürich reduzierte auf die Hälfte. Die Prostituierte hatte Campi vorgeworfen, sie vergewaltigt zu haben. Davon sprach das Obergericht Campi frei und verurteilte ihn zu siebeneinhalb Jahren Haft wegen Stockschlägen gegen die Frau sowie versuchter schwerer Körperverletzung und fahrlässiger Tötung im Fall der Autofahrt. Im August 2012 wurde Campi in einem anderen Fall zu einer dreijährigen unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt: wegen versuchter Vergewaltigung und sexueller Nötigung einer Kellnerin im Kanton Solothurn. Seine Beschwerde wies das Bundesgericht ab.
«Das Schreiben hat mir geholfen, alles zu verarbeiten», sagt Campi im Café Wanger in der Buchser Innenstadt. An den Nachbartischen sitzen Senioren und Mütter mit Babys. Campi bestellt einen Tee. Es ist der Mittag vor der Lesung, in wenigen Stunden wird er ein paar Häuser weiter im «Books in Buchs» sein Buch vorstellen. Heute hat er zum ersten Mal zwölf Stunden alleine Ausgang, davor waren es zweimal fünf Stunden. Der 32-Jährige wirkt nervös, er dreht beim Reden seine Zigarettenschachtel in der Hand. In der ersten Zeit im Gefängnis sei er schweissgebadet und unter Schreien aufgewacht. «Es war ein furchtbarer Fehler. Ich kann das nie wieder gutmachen. An Tagen wie Weihnachten ist es besonders schlimm, wenn ich mir vorstelle, wie es für die Angehörigen des Opfers sein muss.» Seine Strafe sei nicht die Haft, sondern die Schuld, mit der er leben müsse. Das wird er auch am Abend vor den gut 20 Gästen in der Buchhandlung sagen. Viele von ihnen werden anerkennend nicken.
Findet er es den Angehörigen gegenüber nicht anmassend, sich als Täter derart in den Fokus zu rücken? «Anmassend wäre, wenn ich über das Opfer oder die Angehörigen spekulieren würde. Ich versuche nur, einen Einblick in mein Leben zu geben», sagt Campi. Eine weitere Lesung in Zürich ist geplant. Sollten Gewinne entstehen durch das Buch, wolle er das Geld spenden. Dass ein Insasse seine Überlegungen zu Papier bringe, komme immer wieder vor, sagt Martin Vinzens, Direktor der Strafanstalt Saxerriet. Ein Buch wird daraus aber so gut wie nie. Finde ein Insasse mit dem Schreiben einen Weg, vergangenes Fehlverhalten oder deliktrelevante Themen zu verarbeiten, sei dies sicher eine ergänzende Möglichkeit zu den üblichen Methoden, so Vinzens. Was bei der ersten Anfrage im Saxerriet deutlich wird: Man möchte keinerlei Sonderbehandlung für den Insassen-Autor und die Anstalt nicht zur Marketingkulisse werden lassen. Zum Inhalt des Buches äussert sich der Direktor nicht. Abgesehen von einem Streit zwischen den Chefs der Gärtnerei findet Campi im Buch ohnehin nur lobende Worte fürs Saxerriet. Im Gespräch fällt dann doch eine Kritik: «Es kursieren viele Drogen.» Campi sieht darin eine Gefahr für die jungen Insassen. Die Thematik Sucht werde beim Eintritt thematisiert, sagt Vinzens. Die Strafanstalt biete für süchtige Insassen eine ganze Palette an «Behandlungen». Der Auftrag sei, Substanzmissbrauch zu vermindern und Deliktrückfälligkeit zu minimieren.
Campi zeigt in seinem Buch Freude und Erstaunen über das Interesse von Seiten der Justiz an seiner Person.
«So kam es, dass ich einen Job mit höchster Vertrauensstufe erhielt. Ich wurde der neue Verkäufer im Gärtnereiladen.»
Als Verkäufer kommt Campi auch in Kontakt mit der Bevölkerung.
«Während meinen ersten Arbeitstagen im Verkaufsladen fand ein von der Anstalt organisierter Adventsmarkt statt, dem ich anfänglich etwas skeptisch entgegensah, besonders weil man mir einflösste, die Rheintaler seien ein etwas spezielles und äusserst direktes Völkchen. Dass sie speziell sein konnten, durfte ich im Nachhinein klar bejahen, genauso die Direktheit, jedoch beides in einem höchst positiven Sinn, denn die Rheintaler waren durch ihre äusserst nette und herzliche Art speziell und direkt in der Hinsicht, dass sie einen dies gleich spüren liessen.»
Er könne sich vorstellen, nach seiner Entlassung im Rheintal zu bleiben, sagt Campi. Fürs Erste wolle er aber zurück zu Familie und Kollegen nach Solothurn – und an einen Ort auf keinen Fall: nach Zürich. Zu viele Erinnerungen, zu nervös und hektisch sei die Stadt. Er sehne sich nach Ruhe, nach einer festen Beziehung, wolle eine Familie gründen. Zweimal wurde er wegen Gewalt gegen Frauen verurteilt. Kann er garantieren, dass er sich im Griff hat? «Im Falle einer Selbstverteidigung», setzt Campi an – und bricht den Satz ab. Er möchte sich eine solche Situation gar nicht erst ausmalen, denn das bedeute, dass er damit rechne, es könnte passieren. Genau das wolle er aber unbedingt ausschliessen.
«Ich kann mir vorstellen, nach meiner Entlassung im Rheintal zu bleiben.»
Campi hofft auf eine Entlassung Anfang Jahr. Strafanstalt und Justizamt geben dazu keine Auskunft. Am liebsten würde Campi dann als Journalist arbeiten, Missstände in der Haft anprangern. Die Zürcher Justiz und das Gefängnis Pöschwies kommen im Buch schlecht weg. Man kenne weder den Inhalt noch die Vorwürfe, heisst es beim Zürcher Amt für Justizvollzug. Es sei aber zu bedenken, «dass solche Geschichten erfahrungsgemäss von der subjektiven Wahrnehmung geprägt sind».
Campi hat die 200 Seiten in Saxerriet am Computer geschrieben und einer Kollegin per Post geschickt. Den Kontakt zum Basler Münsterverlag stellte einer seiner Anwälte her, Valentin Landmann. Fällt das Wort «Halbwelt», ist er nicht weit. Landmann ist auch bei der Buchvernissage in Buchs dabei. In der Auslage wird «Fear» beworben, das neue Buch über den US-Präsidenten. «Ich bin wohl wie Trump», sagt Campi und spielt auf die narzisstische Persönlichkeitsstörung an, die ihm ein Gutachter gemäss Buch attestiert hat. Am Ende der Lesung nennt Landmann Campis Buch «ein Lehrstück». Wie dieser nach dem Handy griff, «das zeigt, wie schnell etwas passieren kann». Einige im Publikum nicken wieder anerkennend. Ein Gast sagt später: «Wenn das die Essenz der Geschichte ist, finde ich das schwach.»
Campi kommt beim Apéro nach der Lesung mit Zuhörern ins Gespräch, es sind auch Bekannte aus Saxerriet dabei. Allzu lange kann er aber nicht bleiben. Sein Tag in Freiheit endet bald.