Die St. Galler Bauern schwächelten in den letzten Nationalratswahlen. Sie verloren zwei Sitze. Der freisinnige Bauernsitz war unbestritten – und er scheint es auch in den nächsten Monaten zu sein.
Geht er? Geht er nicht? Bleibt er? Bleibt er nicht? Tatsache ist: Er wird gehen. Dann, wann er will. Als Anfang Jahr CVP-Mann Jakob Büchler vorzeitig aus dem Nationalrat ausschied, um einer frischen Kraft Platz zu machen, rückte auch FDP-Nationalrat Walter Müller in den Fokus – und die Frage eines vorzeitigen Rücktritts. Müller reagierte pikiert. Und derzeit geniesst er sein Amt in vollen Zügen. So schaffte er es vor wenigen Tagen in zahlreiche nationale Medien – als Beisitzer von Karin Keller-Sutter an jenem Dienstagnachmittag, als die Ständeratspräsidentin in Wil ihre Bundesratskandidatur bekanntgab. Wer will es Müller verübeln, dass er an der Seite von Keller-Sutter strahlte wie ein Teenie? Wer mag ihm im Dezember den Tag der Bundesratswahl missgönnen? So erledigt sich auch die Frage eines vorzeitigen Rücktritts mit fortlaufender Zeit von allein.
Einer Wählergruppe dürfte das mehr als recht sein: Beendet Müller die Legislatur in Bern ordnungsgemäss, steigen die Chancen, dass die Bauern ihren freisinnigen Nationalratssitz halten können. Würde der Landwirt aus Azmoos der Berner Politik vorzeitig den Rücken kehren, rückte der Stadtsanktgaller Anwalt Walter Locher nach – und die Bauern hätten das Nachsehen.
Als Müller 2003 in den Nationalrat gewählt wurde, dominierten die Bauern die St. Galler Abordnung im Bundeshaus: Fünf der zwölf Nationalratssitze hielten Landwirte. Heute sind es noch drei: Toni Brunner (SVP), Markus Ritter (CVP) und eben Walter Müller (FDP). Auffallend: SVP und CVP haben inzwischen je einen Bauernsitz verloren; die FDP konnte ihren über all die Jahre halten – mit Müller. Auf die Frage, wie bedeutend der Bauernsitz für die St. Galler FDP heute noch ist, antwortet Parteipräsident Raphael Frei: «Der Kanton St. Gallen ist in weiten Teilen ländlich geprägt. Es ist unsere Aufgabe, freisinnig denkenden Personen aus der Landwirtschaft eine geeignete Wahlplattform zu bieten.» Ausweichender fällt die Antwort auf die Frage aus, ob die FDP gezielt darauf hinarbeitet, den Bauernsitz in den Wahlen 2019 zu halten. Dazu Frei: «Das Wahlvolk entscheidet, wer nach Bern entsandt wird. Als Partei stellen wir Listen mit engagierten und geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten aus allen Regionen des Kantons zusammen.»
Die St. Galler FDP ist seit Jahrzehnten mit einer Bäuerin, einem Bauern oder einer landwirtschaftsnahen Person in Bern vertreten. Da waren Milli Wittenwiler, Toggenburger Bäuerin (1991 bis 2003), Walter Zwingli, Agronom und ehemaliger Präsident des St. Galler Bauernverbands (1984 bis 1991), Susanne Eppenberger, Toggenburger Tierarzt-Gattin (1979 bis 1991) oder auch Georg Nef, Bauer und Bäcker aus Hemberg (1971 bis 1987).
Bauern sind wichtige Stimmenlieferanten. Wähler aus der Landwirtschaft wählen Vertreter und Vertreterinnen ihrer eigenen Branche – ungeachtet dessen, ob deren Parteizugehörigkeit mit der eigenen politischen Gesinnung übereinstimmt. So verbuchte 2015 Bauernpräsident Markus Ritter (CVP) am meisten Stimmengewinne über die eigene Partei hinaus. Auf den Plätzen zwei und drei folgten die Landwirte Büchler (CVP) und Müller (FDP). «Landwirtschaftsvertreter sind offensichtlich gut vernetzt, stellen sich für öffentliche Ämter zur Verfügung und können hervorragend mobilisieren», stellt auch FDP-Präsident Frei fest. Deshalb entsendeten wohl auch andere bürgerliche Parteien seit Jahren «Landwirte oder bauernahe Personen wie den Olma-Direktor nach Bern», sagt er mit Seitenblick auf die CVP. Bei ihr war Anfang Jahr Nicolo Paganini für den zurücktretenden Schäniser Bauer Büchler nachgerückt.
Heute ist einer der beiden freisinnigen Nationalratssitze mit einem Bauer besetzt. Vermittelt dies nicht ein falsches Bild der Unternehmerpartei im Kanton? Der Parteipräsident verneint: «Wir sind stolz, dass Bäuerinnen und Bauern den Freisinn, unsere Werte und unsere Kandidaten wählen.» Nationalrat Müller sei früher einmal Präsident des St. Galler Bauernverbandes gewesen, und auch der aktuelle Präsident Peter Nüesch sei ein Freisinniger. «Hinweise, die belegen, dass die Landwirtschaft im Freisinn gut vertreten ist und umgekehrt», so Frei. Böse Zungen behaupten denn auch: Wäre nicht Locher, sondern Stefan Britschgi erster Ersatz, hätte sich Müller längst aus der nationalen Politik verabschiedet. Britschgi, Gemüsebauer aus Diepoldsau, war in den nationalen Wahlen 2015 auf dem dritten Ersatzplatz gelandet, hinter dem heutigen Regierungsrat Marc Mächler. Wie die Rangfolge im Herbst 2019 lauten wird, steht in den Sternen. Möglicherweise ist es auch belanglos – dann nämlich, wenn sich Müller an SP-Ständerat Paul Rechsteiner orientiert und eine weitere Amtsdauer anhängt. Der Azmooser wäre am Ende seiner fünften Legislatur in Bern dann 75.