Was man in Hochwassersommern gern verdrängt: Der Bodensee, grösster Trinkwasserspeicher Mitteleuropas, existiert nicht ewig. In relativ kurzer Zeit, jedenfalls nach der geologischen Zeitrechnung, wird er mit Sand und Kies zugeschüttet sein - ausgerechnet von jenem Gewässer, das den See grösstenteils mit Wasser speist, dem Rhein.
Prall gefüllt die grosse Wanne, das Wasser schöne 23 Grad warm: Just vor den Sommerferien lädt der Bodensee zum Bade. Und weil der Hochwasserstand länger anhält, muss auch in flachen Uferzonen niemand Hunderte Meter durch den Schlamm waten, bis das Wasser endlich brusthoch ist.
Doch aufgepasst: Bodenseefreunde sollten ihr Bad etwas bewusster nehmen. Und jeden Sprung und jeden Schwumm dankbar geniessen. Denn sie müssen wissen: Die Wanne ist keine Selbstverständlichkeit. Und es gibt sie nicht mehr lange.
Wir reden nicht von der Wasserqualität, die beängstigend gut ist, jedenfalls aus Fischersicht. Vielmehr geht es um den See an sich: Unser aller Bodensee, oh Schreck, verschwindet. Unaufhörlich, unabwendbar, radibutz. Schuld daran ist ausnahmsweise nicht der Klimawandel, der die Sonne immer gnadenloser brennen und mehr Seewasser verdunsten lässt. Und auch nicht irgendein irrsinniges geheimdienstliches Bauprojekt. Es ist viel brutaler: Der Bodensee wird von seinem Ernährer eliminiert. Es ist Vater Rhein, der den See zuschüttet – mit angeschwemmten Sand- und Kiesmassen. Bis der See aufgefüllt und kein See mehr ist. Das passiert nicht in Milliarden oder Millionen Jahren, sondern schon bald: Okay, es dauert etwas mehr als eins oder zwei Menschenleben, aber doch nur 40 000 Jahre. Ein Sekundenbruchteil in der geologischen Zeitrechnung; immerhin ist die Erde 4,5 Milliarden Jahre alt.
Der zweitgrösste See Mitteleuropas, Trinkwasserspeicher für vier Millionen Menschen in der Region (mit Ausnahme der Rheintaler und Vorarlberger), diese riesige Lebensader einfach weg? Leider kein hanebüchenes Horrorszenario eines Schülerfilms, sondern nüchterne Rechnung eines Geographen: Oskar Keller schildert den Prozess im neuen Buch «Der Alte Rhein». Seit der Römerzeit habe sich an den Rheinmündungen gezeigt, dass sich die Deltaflächen vergrösserten und der See im gleichen Mass schrumpfte. «Dieser Prozess schreitet unaufhörlich voran», hält Keller fest, bis der Obersee bis Konstanz vollständig zugeschüttet sei. Auf der Grundlage des aufgeschütteten Volumens vom Jahr 0 bis zum Fussacher Durchstich 1900 – 5 350 000 000 Kubikmeter – macht er anhand einer logischen Formel seine Rechnung.
Mit frappierendem Resultat: In 40 300 Jahren sind die 42 Kubikkilometer Wasser des Obersees zugeschüttet. Die Folgen sind dramatisch: Der See weg, Land und Siedlungen im Delta mit über 40 Metern Schutt überdeckt, Rheineck bis zur Burgruine empor begraben und der Heldsberg bei St. Margrethen bis zur Festung hinauf.
Eine beunruhigende Vorstellung – und eine Aufmunterung, mit der Gegenwart zufrieden zu sein. Wer sich beim Schwumm 2016 an Blütenstaubteppichen oder ähnlichen Kleinigkeiten stört, soll sich das Jahr 42316 vor Augen halten. Dannzumal schwimmt hier niemand mehr; kein Lindauer, kein Bregenzer, kein Arboner. Freilich eröffnet das Szenario auch Vorteile, man denke allein an das gewonnene Agrarland – 473 Quadratkilometer fruchtbarer Boden, fast die Hälfte des Kantons Thurgau. Auch Bauunternehmer kriegen feuchte Augen: So schönes, flaches, leicht erschliessbares Bauland hat man seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen! Endlich lassen sich dichtbebaute Seesiedlungen wie Rorschach nordwärts in die Fläche erweitern.
Nun ist die Wahrscheinlichkeit allerdings hoch, dass die bisherigen Seeanstösser nicht profitieren werden. Weil ihr Gebiet zum Zeitpunkt, da der See verschwunden ist, längst eine chinesische Provinz ist. Und die Chinesen ganz andere Projekte vorhaben. Wenn sie hier überhaupt noch zu trinken haben.
Alles unheimlich lustige Gedankenspiele für lange Baditage. Ärgerlich nur, was Keller bereits in einem früheren Buch dargelegt hat: Der Zürisee, bekanntlich ein viel kleineres Gewässer und mitunter als Tümpel verlacht, ausgerechnet er hat noch 10 000 Jahre mehr vor sich als unser Bodensee.