Justizgeschichten
Nur ein ganz kleiner Teil der Straffälle kommt vor Gericht. Das Allermeiste erledigen die Staatsanwälte, die damit freilich zu Anklägern und Richtern in einer Person werden. Man mag diese Machtfülle der Strafuntersuchungsbehörden bedauern, kann aber doch nichts daran ändern, weil die Justiz sonst unter der Arbeitslast zusammenbrechen würde. Was die Staatsanwaltschaft den Gerichten alles erspart, soll exemplarisch die folgende Geschichte zeigen.
Ein Junggeselle, der nicht gerade als besonders umgänglich bekannt war, verkrachte sich mit seinem Vermieter und erhielt die Kündigung. Er plante die Züglete von einem Stadtquartier ins andere sorgfältig und holte mehrere Offerten ein. Ein Transportunternehmer aus dem Kanton Zürich, der am Monatsende ohnehin in der Stadt St. Gallen zu tun hatte, bot ihm an, den Auftrag für den bescheidenen Pauschalpreis von 700 Franken zu erledigen. Eine Woche nach dem Umzug monierte der Kunde, die Zügelmänner hätten mehrere Möbel kaputtgemacht. So werde das Sofa von einem fünf Zentimeter langen Riss verunstaltet und der Schrank von mehreren Kratzern verunziert, ein Sesselbezug weise ein grosses Loch auf, und der Küchentisch habe einen tiefen Hick abbekommen. Sodann sei eine kleine Metallplatte, die sein Bett zusammenhielt, mitsamt den Schrauben spurlos verschwunden. Sechs Stunden später meldete er sich schon wieder, reklamierte in ruppigem Ton, dass noch keine Antwort eingetroffen sei, und kündigte den Beizug eines Rechtsanwalts an. Am folgenden Tag doppelte er nach, bezeichnete den Fuhrunternehmer ungeniert als «Gauner» und teilte ultimativ mit, er werde eine Strafanzeige einreichen.
Darauf schickte ihm der Fuhrhalter postwendend ein Mail:«Sehr geehrter Herr, wir haben Ihnen ein günstiges Angebot gemacht und den Auftrag seriös ausgeführt. Nun sehen wir leider, dass Sie ein Betrüger und Erpresser sind. Sie können uns gerne anzeigen, wir sehen uns vor dem Staatsanwalt wieder!» Jetzt geriet der Auftraggeber erst recht in Zorn und stellte sogleich einen Strafantrag: Die Verschandelung mehrerer Möbelstücke sei eine Sachbeschädigung, die Wegnahme eines unentbehrlichen Befestigungsstücks eine Sachentziehung und die Abstempelung zum Kriminellen eine Beleidigung. Für den Sachschaden verlangte er einen Ersatz von 400 Franken und für die Ehrverletzung eine Genugtuung von 500 Franken. Damit hätte er beim Logiswechsel sogar noch einen Gewinn erzielt.
Die Staatsanwaltschaft muss eine Strafuntersuchung eröffnen, wenn sich aus einer Anzeige ein hinreichender Tatverdacht ergibt. Sie kann darauf nur verzichten, wenn zum Voraus feststeht, dass ein Tatbestand nicht erfüllt ist oder wenn ein Normverstoss als so geringfügig erscheint, dass keinerlei Strafbedürfnis besteht. Dann erlässt der Staatsanwalt eine «Nichtanhandnahmeverfügung» – so heisst der Entscheid auf Nichteintreten in der gestelzten Amtssprache. Das tat er in diesem Fall mit folgender Begründung: Ein fahrlässiger Umgang mit fremden Sachen wäre nicht strafbar, und eine vorsätzliche Beschädigung sei auszuschliessen. Das Verschwinden eines Scharniers samt Schrauben sei derart unbedeutend, dass sich eine aufwendige Strafverfolgung nicht rechtfertigen lasse. Der Anzeiger habe den Beschuldigten schliesslich mit der völlig haltlosen Betitelung als Gauner provoziert und müsse sich gefallen lassen, dass dieser es ihm mit gleicher Münze heimzahlte. Wenn der Beschimpfte durch sein ungebührliches Verhalten zur Ehrenkränkung unmittelbaren Anlass gegeben habe, könne der Beleidiger von Strafe befreit werden.
Daraufhin wandte sich der unbefriedigte Anzeiger an die Beschwerdeinstanz und forderte die Eröffnung eines Verfahrens wegen Ehrverletzung; die anderen Vorwürfe liess er immerhin fallen. Die dafür zuständige Anklagekammer stellte fest, dass beide Seiten ihrem Ärger bereits genügend Luft verschafft hätten. Der triviale Streit gebe keinen Anlass mehr zur Durchführung eines Strafverfahrens.
Die Kammer wies die Beschwerde ab und auferlegte dem Beschwerdeführer eine happige Gebühr von 1500 Franken– schätzungsweise das Hundertfache dessen, was der Kauf eines Stopfgarns, eines Schleifpapiers und eines Scharniers zwecks eigenhändiger Reparatur der Möbel gekostet hätte. Nun droht dem Mann aber noch weiteres Ungemach: Beim nächsten Umzug wird er seine Habe wohl mit einem Leiterwagen transportieren müssen.